Spitzenforschung:Barthes' Babel

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Der Eiffelturm, 1920. (Foto: Süddeutsche Zeitung Photo/Scherl)

An den Streben des "Spitzengewebes aus Eisen" schraubte sich das Denken des Roland Barthes in kreisenden Bewegungen in die Höhe empor. Nun ist sein Essay über den Eiffelturm wieder da.

Von Christopher Schmidt

Nahezu die einzige Stelle in Paris, von der aus man den Eiffelturm nicht sehen kann, ist der Eiffelturm. Wer ihm entgehen will, muss seine Nähe suchen, denn das markanteste Bauwerk der Stadt ist dort fast überall sichtbar, und es blickt auch selbst zurück - sogar durchs Fenster lugt es wie ein Voyeur in die Intimität der Wohnungen hinein. Mit diesem Paradox geht es gleich los in Roland Barthes' berühmtem Essay "Der Eiffelturm" aus dem Jahr 1964, der nun wieder auf Deutsch vorliegt - angereichert mit historischen Stichen aus der Bauphase des 1889 zur Weltausstellung eingeweihten Monuments. Einem "signature building", wie es kein zweites gibt.

Der Aufsatz über den Eiffelturm fällt heraus aus dem Werk des Literaturwissenschaftlers Barthes, der sich dezidiert nicht mit den Nationalikonen der französischen Kultur befasst hat, sondern mit den Mythen des Alltag, der Mode etwa und ihren ideologischen Einschreibungen. Dass er hier eine Ausnahme macht, hängt mit der symbolischen Alleinstellung des zur Verherrlichung der Französischen Revolution errichteten Eiffelturms zusammen. Denn für Barthes ist er ein "totales Denkmal" und damit fast ein "leeres Zeichen", ein Simulacrum, das Bedeutung anzieht "wie ein Blitzableiter", aber über jede einzelne Bedeutung hinausweist. Vor allem seine Nutzlosigkeit erhebt den Eiffelturm für Barthes in den Rang eines Traum-Gebildes, an dem sich Sehnsüchte kristallisieren. Er repräsentiert die "Atopie", die Ortlosigkeit, um es mit einem Schlüsselbegriff seines Denkens zu sagen.

Es waren die Gegensätze, die Roland Barthes an diesem "Spitzengewebe aus Eisen" faszinierten. Massiv und filigran, profan und sakral, funktional und dabei zweckfrei, ist der Eiffelturm Gebäude und doch nur Gerüst, eine Brückenkonstruktion, aber in die Vertikale gekippt. Es sei "auf seine Quintessenz reduzierter, sublimierter Wind", schreibt er über das luftig durchbrochene Eisen. Mit seinem netzstrumpfartigen Gitterwerk ist dieses Skelett reine Struktur und lässt zugleich die Stadt Paris als ebensolche lesbar werden. Der Eiffelturm wird so zum magnetischen Studienobjekt der strukturalistischen Schule, die in seinem Geflecht ihr Spiegelbild erkennt. Eine Methodenlehre aus Stahl. Jeder Besucher des Eiffelturms treibe Strukturalismus, "ohne es zu wissen", so Roland Barthes. An der semiotischen Antenne des Eiffelturms schraubte sich sein Denken zur vollen Höhe empor. Der Gegenstand und sein Interpret - sie beide sind einsame Spitze.

Roland Barthe s: Der Eiffelturm. Aus dem Französischen von Helmut Scheffel. Suhrkamp Taschenbuch, Berlin 2015. 80 Seiten, 9 Euro.

© SZ vom 12.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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