Schriftsteller Alaa al-Aswani:Ein verzweifelter Bürger Ägyptens

"Wir werden Mursi stürzen, so wie wir Mubarak gestürzt haben": Alaa al-Aswani schrieb vor ein paar Jahren den erfolgreichsten arabischen Roman, nun kämpft er in seiner Heimat für Demokratie.

Von Tim Neshitov

Alaa al-Aswani, der meistgelesene Autor Ägyptens, sitzt in einem kleinen Hotel am Feuersee, mitten in Stuttgart, und twittert. "Ägypten hat keinen legitimen Präsidenten. Wir haben jemanden gewählt, der sich als ein Angestellter des Mursched entpuppt hat, ein blutiger Diktator." Mursched wird der Oberste Führer der Muslimbrüder genannt. Aswani hat große gepflegte Fingernägel und ein iPad mit schwarzer Schutzhülle. Er twittert gegen Mohammed Mursi an, einen Staatschef, der mit seinem islamistischen Verfassungsentwurf Ägypten an den Rand des Bürgerkriegs gebracht hat.

Es ist Donnerstagvormittag, in Deutschland der Nikolaustag. In Ägypten meldet das Staatsfernsehen fünf Tote nach den jüngsten Straßenschlachten. Mursis Anhänger, hauptsächlich Muslimbrüder, und Mursis Gegner haben sich in der Nacht vor dem Präsidentenpalast mit Steinen und Brandsätzen beworfen. Aswani, 55, ein stämmiger Mann mit Schuhgröße 47 und kurzem, noch sehr schwarzem Haar, verpasst normalerweise keine Demonstrationen. Nach einem Messerattentat auf dem Tahrir-Platz, dem er im vergangenen Jahr knapp entkam, wird er auf der Straße von großwüchsigen Anhängern geschützt, meistens von Fußball-Ultras.

Aber seit Montag hält sich Aswani in Deutschland auf. Er hat in Schorndorf bei Stuttgart den Johann-Philipp-Palm-Preis für Meinungs- und Pressefreiheit verliehen bekommen. Johann Philipp Palm war ein Buchhändler in Nürnberg, der 1806 ein Pamphlet gegen Napoleon veröffentlichte, "Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung". Palm wurde hingerichtet.

"Diese 2000 Stimmen werden manipuliert"

Nach der Preisverleihung blieb Alaa al-Aswani in Deutschland, obwohl sich in Ägypten die blutigste Staatskrise seit dem Sturz Hosni Mubaraks abzeichnete. Aswani brachte seine Frau zum Arzt, sie arbeitet als Buchhalterin und leidet an Arthritis. Auch sich selbst ließ er von zwei schwäbischen Ärzten untersuchen. Er raucht seit Jahrzehnten Kette. "Die Ärzte sagten, meine Lungen seien erstaunlich gesund." Aswani lacht wie ein Schulschwänzer, der eine Prüfung bestanden hat. Er hat eine tiefe, kalkige Stimme, die man dieser Tage täglich im ägyptischen Fernsehen hören kann. Ein Privatsender ruft ihn in Deutschland an und macht telefonische Interviews. Für das Staatsfernsehen existiert Aswani nicht. Unter Mubarak stand er auf der schwarzen Liste, und auch den neuen Machthabern ist er zu kritisch geworden.

Bevor Aswani am Montag nach Kairo fliegt ("Ich werde meinen Koffer in die Wohnung schmeißen und zum Tahrir laufen!"), versucht er, die in Deutschland lebenden Ägypter für eine Demonstration zu mobilisieren. In Deutschland leben 60.000 Ägypter. Nach SZ-Informationen sind lediglich 2000 von ihnen für das angekündigte Referendum am 15. Dezember registriert worden. An dem Tag will Präsident Mursi über seine Verfassung abstimmen lassen. "Diese 2000 Stimmen werden manipuliert und als repräsentativ dargestellt werden, wie bereits zu Mubaraks Zeiten. Unsere Bürokratie ist darin sehr erfahren", sagt Aswani. "Die Menschen hier sollen auf die Straße gehen und ihre Stimme gegen diese Farce erheben. Aber es ist nicht einfach, sie davon zu überzeugen."

In der gemütlichen Lobby funkelt ein Tannenbaum, der schwäbische Lokalsender spielt Adeles "Someone like you", die Nachrichten beginnen mit der Ägyptenmeldung. Die Präsidentengarde habe ihre Panzer vor Mursis Palast aufgefahren. "Mursi, Mursi", seufzt Aswani. Er trinkt schwarzen zuckerlosen Kaffee und knabbert an einem Schokonikolaus. Seine Frau ist gerade unterwegs im Schneegestöber, sie besorgt ein paar deutsche Jacken für ihre beiden Töchter. In der Früh hat Aswani mit dem Nobelpreisträger Muhammed ElBaradei telefoniert, dem ehemaligen UN-Atominspekteur und einem wichtigen Oppositionsführer. Nun twittert Aswani: "Wir werden Mursi stürzen, so, wie wir Mubarak gestürzt haben."

Aswani hat mehr als 630 000 Follower auf Twitter. Was er schreibt, landet schnell auf arabischen Nachrichtenseiten. Und die Reaktionen sieht er auch gleich auf seinem Bildschirm.

"Du bist dämlich", twittert eine hübsche Frau. "Du weißt eigentlich gar nichts, aber du redest immer noch."

Aswanis Kritiker, die meisten von ihnen Islamisten, verstecken sich im Internet gerne hinter Frauenbildern. Eine Schönheit erkundigt sich, ob Aswani seinen Morgenwhiskey bereits zu sich genommen habe. "Mich zu beleidigen fällt ihnen nicht schwer, denn meine Bücher haben sie offensichtlich nicht gelesen. Sonst würden sie nicht behaupten, ich schreibe gegen den Islam."

"Er fragte: Und wer bist du eigentlich?"

Weltberühmt wurde Aswani mit seinem 2002 veröffentlichten Roman "Der Jakubijan-Bau", einem ironischen, kontrastreichen Panorama des Alltags unter Hosni Mubarak zu Beginn der Neunzigerjahre. Aswani brach darin mehrere Tabus. Er schilderte, wie Ägypter miteinander schlafen, wie sie Arbeit suchen, Schmiergeld geben und nehmen, Treppen putzen, Champagner trinken, kiffen, beten, Wahlen fälschen, zu Terroristen werden. Das Buch wurde in 27 Sprachen übersetzt, darunter ins Hebräische, und hat sich weltweit mehr als eine Million Mal verkauft. Auch Aswanis Roman "Chicago" wurde vor sechs Jahren zu einem internationalen Bestseller. Aber noch größer als sein literarisches Gewicht scheint Aswanis politischer Einfluss in Krisenzeiten zu sein.

Bei einer hitzigen Fernsehdebatte im vergangenen Februar faltete er den damaligen Ministerpräsidenten Ahmed Shafik, einen Mann aus Mubaraks alter Garde, derart zusammen, dass Shafik zwei Tage später zurücktrat. "Am meisten brachte ihn auf die Palme, dass ich ihn wie einen gleichwertigen Menschen ansprach, und nicht wie irgendeinen Halbgott", sagt Aswani. "Er fragte: Und wer bist du eigentlich? Ich hätte sagen können: Ich bin der erfolgreichste arabische Schriftsteller der Gegenwart, aber ich sagte: Ich bin ein Bürger Ägyptens und Sie müssen sich daran gewöhnen, dass Bürger Ägyptens Ihnen Fragen stellen."

Fragen stellen, nicht vor Amts- und Würdenträgern kuschen, das ist ein Thema, das Aswani seit Längerem bewegt. Er hat Zahnmedizin studiert, den Bachelor in Kairo gemacht und den Master in Chicago. In einer Kolumne in der Zeitung Al Masry al Youm beschrieb er kürzlich seine Zeit als Assistenzarzt an der Kairoer Universität Anfang der Achtzigerjahre als "die schlimmsten Tage meines Lebens". Es gab dort einen Professor, der seinen Assistenten mit "Esel" ansprach, und der Assistent konnte gut damit leben, er sagte, der Professor sei für ihn wie der Vater.

"Autokratie ist wie der Krebs"

"Autokratie ist wie der Krebs", schrieb Aswani. "Sie verbreitet sich vom Präsidentenpalast über die ganze Gesellschaft. Unterdrückte Menschen werden selbst zu kleinen Autokraten. Sobald sie mit Menschen zu tun haben, die noch schwächer sind, vervielfältigen sie die Unterdrückung, die sie selbst erlitten haben."

Aswani praktiziert immer noch als Zahnarzt, zwei Tage in der Woche, obwohl er von seinem Schreiben leben könnte - was in der arabischen Welt selten vorkommt. "Meine Praxis ist das Fenster, das ich brauche, um die Gesellschaft zu beobachten."

Was Aswani heute aus diesem Fenster sieht, erfüllt ihn mit gemischten Gefühlen. Seine Patienten klagen einerseits darüber, wie ihre Vorgesetzten sie schikanieren. Die Zustände an der Kairoer Universität etwa hätten sich seit den Achtzigern nicht verändert. "Als Student warst und bleibst du ein hilfloses Wesen. Du wirst dazu erzogen, keine Fragen zu stellen." Ägypten bleibt also ein Land kleiner Autokraten.

Andererseits habe Ägypten im Januar 2011 einen "mysteriösen Moment der Revolution" erlebt. "Aus Menschen, die nicht einmal bewusste Bürger waren, wurden plötzlich Helden. Diktatoren können nur regieren, weil Menschen, egal wo auf der Welt, von Natur aus keine Helden sind."

Als Nicht-Ägypter kann man an dem Anblick verzweifeln

Ägypten, zwei Jahre nach dem Ende der Ära Mubarak: Als Nicht-Ägypter kann man an dem Anblick verzweifeln. Aswani aber findet, die Herrschaft der Muslimbrüder und ihres Präsidenten Mursi tue seinem Land auf Dauer gut. "Es ist natürlich gut für Ägypten, nicht für die Bruderschaft. Es ist wie eine Impfung. Jahrzehntelang malte Mubarak den islamistischen Teufel an die Wand. Das hat der Bruderschaft einen enormen Zulauf beschert. Nun wenden sich die Menschen von ihnen ab, denn sie sehen, was für faschistoide Fanatiker das sind. Wenn der Spuk vorbei ist, wird Ägypten gefeit sein vor solchen Organismen."

Aswani spricht abschätzend von Islamisten, aber er hat sie bisher regelmäßig getroffen. Beim letzten Gespräch mit Präsident Mursi habe er dem Staatschef eine Viertelstunde lang ins Gewissen geredet. "Man kann sehr offen mit ihm sein, und er hört freundlich zu. Ich sagte: Sie sind Vertreter einer Organisation, deren Geldquellen im Verborgenen liegen. Ihre Verfassungsreform ist durch nichts legitimiert. Und er lächelte die ganze Zeit und sagte, er gebe mir in allen Punkten recht. Er sagte: Vielen Dank, lassen Sie uns ein gemeinsames Foto machen."

Aswani wuchs in einer liberalen Familie auf, seine Mutter war fromm, sein Vater Anwalt und Schriftsteller, der weder fastete noch betete. Zum Freundeskreis der Eltern gehörten Kopten, ägyptische Christen. Aswani sagt, er sei ein Mensch, der Gott braucht. Er geht hinaus und zündet sich vor der Johanneskirche gegenüber dem Hotel eine Zigarette an. "Ich kann diese Gutenbergstraße herunterlaufen, aber auf einem anderen Weg zum Hotel zurückkommen. Auch zu Gott führen viele Wege."

Ein Frommer twittert zurück: "Gött steht hinter dem Präsidenten"

Mursis islamistische Verfassung sieht vor, dass Aussagen von Kopten gegen Muslime vor Gericht keinen Wert haben sollen. Oder dass Christen, die in Ägypten Alkohol trinken, achtzig Peitschenhiebe bekommen. Aswani twittert: "Wie kann eine Verfassung legal sein, die den Willen der Kopten außen vor lässt? Haben sie nicht auch für die Freiheit gekämpft? Zahlen sie nicht auch Steuern?" Ein Frommer twittert zurück: "Zwei Drittel der Ägypter stehen hinter dem Präsidenten. Gott steht hinter dem Präsidenten."

Der mysteriöse Moment der Anti-Mubarak-Revolution, der das Land kurz geeint hat, wäre er nicht einen Roman wert?

"Sicher. Aber Romane schreiben hat etwas Organisches, wie sich verlieben. Ich kann nicht sagen: Ich schreibe jetzt mal ein Buch über die Revolution. Ich kann ja auch nicht sagen: Ich verliebe mich diese Woche mal in diese Frau."

Aswani hat stattdessen ein historisches Buch geschrieben. Es soll im Frühjahr erscheinen und heißt "Ägyptens Automobilclub". Es spielt in den 1940er-Jahren, als sich Autos in Ägypten verbreiteten. Aber im ersten Kapitel erzählt Aswani, wie Carl und Bertha Benz in Deutschland einst gegen den Widerstand von Motorgegnern kämpfen mussten. "Es gab Pferdefanatiker, die sagten: Gott hat Pferde geschaffen, aber keine Motoren. Diese Fanatiker erinnern mich sehr an unsere Muslimbrüder."

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