Salzburger Festspiele:Dem Wahnsinn auf den Fersen

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Erst Blumen, dann Blut: Simon Stone verleiht Aribert Reimanns Oper "Lear" eine zwingende Logik des Untergangs.

Von Egbert Tholl

Der Sturm bricht los. Auf der Bühne ist es nur ein sanfter Regen, im Graben jedoch schichten die Streicher Vierteltöne zu einem sieben Oktaven breiten Cluster auf, einem stürmisch bewegten Klanghaufen, der schon für sich inhomogen, rau bleibt, aus dem dann noch einzelne Tongruppen herausfallen. Dazu treten tiefe Bläser, kreischende Bläser, schreiende Bläser, das Schlagwerk drischt, als gäbe es kein Morgen: "Lear" von Aribert Reimann ist kein liebliches Stück.

Aber das ist die Vorlage von William Shakespeare ja auch nicht, und eine grausame Vorlage gebiert grausame Musik. Diese ist längst ein Klassiker der Moderne. 1978 eröffnete die Uraufführung von Reimanns "Lear" die Münchner Opernfestspiele, nun erlebte diese Oper ihre 28. Neuinszenierung seither, bei den Salzburger Festspielen, dirigiert von Franz Welser-Möst, inszeniert von Simon Stone, der seit einigen Jahren als eines der größten Regietalente weit und breit gehandelt wird.

Im Vorfeld meinte Simon Stone, Reimann verknüpfe hier Musik und Psychologie zu einer idealen Fassung des Dramas, die besser zu verstehen sei als jede Shakespeare-Aufführung, allein schon deshalb, weil die Musik das Problem des Wahnsinns löse. In seiner Jugend in Australien hat Stone, Jahrgang 1984, den ganzen Shakespeare gelesen. Der Mann weiß, wovon er spricht.

Erst blühen in der Felsenreitschule Blumen, dann fließt das Blut

Mit dem Verstehen hat er recht, aber dieses ist von Reimann und seinem Librettisten Claus Henneberg hart erkauft. Mit schnörkelloser Konsequenz rast die Handlung ihrem Ende zu, Lear stolpert geradezu in seinen Wahnsinn, jede Figur wird ihrer Ambivalenz beraubt, der Narr, Spiegel von Lears Verblendung, ist nur noch ein Possenreißer. Und die Musik macht kein Hehl daraus, was man von jeder einzelnen Figur zu halten hat. Doch hat diese Musik immer noch eine nervenaufreibende Ausdruckskraft. Sie verhindert, dass diese Musik angestaubt wirkt, auch wenn mancher sie so wahrnehmen mag. Gerade die im ersten der beiden Teile bis zum Enervieren ausgedehnten Schlagzeug-Kaskaden klingen 40 Jahre nach der Uraufführung fast schon wie die Reminiszenz ihrer selbst - und haben halt doch eine immense, wenn auch auf Dauer simplifizierende Wucht.

Von Wirkung in der Musik versteht Reimann außerordentlich viel. Auch von deren Schweigen. Wie ein Überfall beginnt die erste Szene, in welcher der eitle, alte König sein Reich auf seine drei Töchter aufteilt. Wer ihm Liebe schwört, erhält sein Erbteil. Goneril und Regan ergehen sich daraufhin in absurden Koloraturen, Cordelia kommentiert dies für sich, beiseite. Ist sie an der Reihe, sagt sie: "Nichts." Sie singt nicht, sie will nichts sagen, sagt nur, dass sie nichts sagt. Wer nichts sagt von Liebe, der kriegt auch nichts von Lear. Immer wieder gibt es in den zweieinhalb Stunden diese Momente, in denen die überbordende Musik schweigt, in denen der Bauplan aus miteinander korrespondierenden Zwölftonreihen, in Einzelteilen zerlegten und neu geschichteten Tonhaufen und der aus dem Vollen schöpfenden Instrumentierung nur aufs Verstummen zielt. Das wirkt. Am Ende bleibt ein reiner Streicherklang, flirrend im Flageolett. Und die Bühne verschwindet in einem nebligen Weiß.

Doch erst einmal blühen in der Felsenreitschule die Blumen. Bob Cousins hat sie gepflanzt, in einem Riegel quer über die enorme Breite der Bühne. Oben sitzt hinter den Blumen Publikum, das sich bald als eine drangsalierte Statistenschar erweist. Unten im Graben hält Franz Welser-Möst die Wiener Philharmoniker gut zusammen, entlockt ihnen mit Eleganz bewegende, klangintensive Momente. Man kann diese Musik härter noch, stählerner, krasser dirigieren; Welser-Möst entdeckt dagegen versöhnlich einige spätromantische Wurzeln. Den Schlagzeugbetrieb hat er aus Platzgründen nach rechts oben ausgelagert, was die Freude über dessen Treiben, sitzt man auf dieser Seite, durchaus schmälert, da es gewaltig im Schädel rappelt.

Gerald Finley tritt auf im weißen Dinnerjacket, sein Lear ist ein eingebildeter, jovialer Chef, der ein paar Leute im Bühnenpublikum begrüßt. Später wird er Unterhosen tragen, die schon bessere Tage gesehen haben, oder einen grauen Jogginganzug, verwirrt Blümchenketten basteln, am Ende in einem Anstaltsbett seinen Wahn überwinden und an der Erkenntnis seiner Hybris zugrunde gehen. Dann rollt er sich in den Schoß der liebenden, toten Tochter Cordelia, einer weißen Figur aus dem Totenreich. In ihrem Weiß verschwindet der alte Narr. Diesen Weg des störrischen Machthabers zur Trauergestalt zeichnet Finley mit enormer Kraft in der Stimme und großem Ausdrucksvermögen.

Goneril und Regan tragen Chanel-Kostüme, die eine in Rosa, die andere in Grün, Evelyn Herlitzius und Gun-Brit Barkmin geifern mit nicht nachlassender Intensität um die Wette, dass es eine Pracht hat. Und gerade Herlitzius hat in der Sturheit des bösen, machtgierigen Weibs große Momente. Dagegen rührt Anna Prohaska als Cordelia in sanfter Stille, auch wenn ihre Stimme mehr Wärme vertragen könnte. Alle Höflinge machen ihre Sache gut, der noble, klare Matthias Klink hat leider nur die kleine Rolle des guten Kent zu singen, Lauri Vasar bleibt ein bisschen blass als Gloster, dessen bösem Sohn Edmund verleiht Charles Workman strategische Intelligenz, Michael Maertens ist der Narr als Spaßmacher, ein Entertainer und Meister der Outrage, der sich, als der Rest des Hofstaats jammervoll durch die Heide treibt, erschießt.

Mit diesem Personal geht Simon Stone äußerst präzise um. Er hat ein untrügliches Gespür für Details und hört auf die Musik. So kann es auch grell werden, wenn Lears Gefolge als versoffene Meute die Blumen vernichtet, eine gut rasierte, nackte Dame auf die Bühne zerrt und Goneril es leicht macht, den Vater rauszuwerfen - das ist alles in der Musik. Ebenso wie die entrückte Einsamkeit von Edgar, Glosters gutem Sohn, der sich in den Wahn (des Countergesangs) flüchtet und zum armen Tom wird, den friert. Kai Wessel ist hinreißend, selbst dann traurig, wenn er als Micky Maus Luftballons trägt.

Im zweiten Teil wird aufgeräumt, die Blumen sind weg, konsequent wird geschlachtet, das Bühnenpublikum in einer Blutlache ertränkt, die toten Charaktere nehmen auf den nun leeren Sitzen Platz, und mit der Präzision eines Chirurgen ordnet Stone eine Stunde Massaker, Morden, Wahn. Die zwingende Selbstverständlichkeit des Ergebnisses verblüfft, gerade bei diesem wüsten Stoff.

© SZ vom 22.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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