Roman: Alle sieben Wellen:Wenn Festplatten fremdgehen

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Symptom der Sittengeschichte, ähnlich den "Feuchtgebieten". Daniel Glattauer schreibt einen Liebesroman, der ganz aus E-Mails besteht. Die keuscheste Liebe, die es je gab.

B. Müller

Kann man sich in einen anderen Menschen verlieben, obwohl man ihn nie gesehen, gehört und berührt hat, einzig aufgrund des Austauschs geschriebener Worte? Dies ist die Voraussetzung, die Daniel Glattauer in dem 2006 erschienenen Brief- oder vielmehr E-Mail-Roman "Gut gegen Nordwind" gemacht hatte. Der aktuelle Anschlussband "Alle sieben Wellen" bringt als Auftakt mehrere Seiten "Leser schreiben an den Autor", ausnahmslos glühende Dankesbriefe. "Denken Sie sich einen Riesenblumenstrauß von Ulrike", heißt es da, oder "Ca. 7 Stunden und 2 Päckchen Taschentücher später war ich fertig", oder einfach "Danke, Daniel!" Ein Ungeduldiger versteht nicht, warum das neue Buch erst 2009 fertig sein soll, "Pressieren Sie bitte"; ein Kreis von Freundinnen möchte, sooft eine von ihnen einen neuen Mann kennenlernt, erst mal wissen: "Und, ist er ein bisschen Leo?", Leo wie Leo Leike, der Held an der Tastatur; eine Buchhändlerin "könnte Sie küssen für Ihren absolut supertollen Roman. Ich verkauf ihn wie warme Semmeln!!!!!!!!!!!!!!!!"

Ein Briefschreiber mit Tinte und Papier hätte jedes einzelne dieses runden Dutzends von Ausrufezeichen eigens aufs Blatt malen müssen, im Zeitalter der E-Mail genügt es, wenn einem der Finger auf der Taste einschläft, was nicht ohne Auswirkungen auf den Stil bleiben kann. Wie dem auch sei, der Autor hat da offenbar einen Nerv getroffen, eine neue soziale Wirklichkeit drängt auf ihren Ausdruck und ist entzückt, wenn sie ihn findet. Man wird diesem Buch nicht gerecht, wenn man es als vor allem als ein literarisches Werk betrachtet; ein Symptom und Ereignis der Sittengeschichte ist es, ähnlich den "Feuchtgebieten". Zu diesen bildet es das Pendant, das Gegengewicht am äußersten anderen Ende des Waagbalkens. Wie kann es sein, dass beide Bücher gleichzeitig im Trend liegen, die wilde Feier des Körperlichen noch in seinen abstoßendsten Aspekten und die keuscheste, unkörperlichste Liebe, die es je gab? Wahrlich, wir leben in einer segmentierten Gesellschaft!

Der Vorläuferband hatte als Cliffhanger geendet: Leo hatte sich den wachsenden Zumutungen seiner Mailpartnerin Emmi durch Flucht in die USA und Abbruch des Kontakts entzogen. Nun wagt sie es ganz zaghaft wieder: "Hallo". Langsam läuft der Kontakt wieder an; Leo lässt sich vernehmen: "Ich hoffe, es geht dir gut, mindestens zweimal so gut wie mir. Adieu."

Und: "Ich hätte nicht zurückschreiben dürfen, liebe Emmi. Jetzt habe ich dich (schon wieder) verletzt, das wollte ich nicht." Jeder andere Leser als die betörte Emmi würde es merken, wie aus diesen Sätzen die sentimentale Unaufrichtigkeit trieft, und die Finger vom Keyboard lassen. Der Anschein von Symmetrie in diesem Mailwechsel trügt durchaus; es ist ziemlich klar, dass Emmi mehr an dieser Verbindung liegt als Leo.

Zugleich aber hat sie mehr zu verlieren und trägt größere Verantwortung, denn sie ist verheiratet und muss für zwei pubertierende (Stief-)Kinder sorgen, während sich in Leos Umkreis lediglich eine wenig verbindliche amerikanische "Pam" tummelt. Diese Konstellation macht es für Leo möglich, seine ideale Liebe auf Distanz bei kleiner Flamme schmoren zu lassen. Das dürften die irdischen Vektoren jener himmlischen Romanze sein, von Glattauer so vielleicht gar nicht beabsichtigt; da scheinen starke unbewusste Anteile in sein Schreiben hineinzuragen.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, wie eine typische E-Mail-Unterhaltung im Buch abläuft.

Wenn man den Autor dennoch für etwas bewundern muss, dann gewiss für diesen doppelten Akt der wünschelrutenhaften Einfühlung, durch den er einerseits zum Komplizen seines Leo wird, andererseits mit Schwung sozusagen auf sich selbst hereinfällt. Nervös sind sie beide wie die Rennpferde. Sie tänzeln auf der Stelle. Ihre Kommunikation hält im Tempo eine quälende Mitte zwischen Brief und Mündlichkeit. Das geht so:

"AW: Darf ich dich etwas 'Persönliches' fragen, Emmi? 50 Sekunden später. RE: Na, das kann eine Frage werden! 40 Sekunden später AW: Bist du noch mit Bernhard zusammen? 30 Sekunden später RE: Schon. Doch. Klar. Sicher. Warum fragst du? 40 Sekunden später AW: Ach, nur aus 'persönlichem' Interesse. 20 Sekunden später RE: An mir? 30 Sekunden später AW: An deinen Lebensumständen. 50 Sekunden später RE: Soso. Darf ich dich auch was 'Persönliches' fragen, Leo? 20 Sekunden später AW: Du darfst."

Unvermeidbares Treffen

Zählt man alle diese Zeitangaben zusammen, dann ergibt sich, dass die beiden für rund fünfzig Wörter rund fünf Minuten brauchen. Es ist ein Wunder, dass sie bei diesem Stop-and-go-Verkehr auf dem Daten-Highway nicht wahnsinnig werden. Dem Autor ist klar, dass er ausschließlich mit so was nicht noch einen zweiten Band füllen kann; dass die beiden sich irgendwann doch treffen müssen. Warum will Leo das plötzlich? "Weil ich will, dass du hinter dir hast zu glauben, dass ich es hinter mir haben will." Unbefangener traten sich nie zwei Liebende gegenüber. Die Begegnung selbst ist dem Buch so wenig darstellbar wie einem Roman des 19. Jahrhunderts die Details der Hochzeitsnacht.

Es bescheidet sich züchtig mit dem elektronischen Vorher und Nachher jener Szene, wo sie sich wirklich und wahrhaftig eine Stunde lang im Café gegenübergesessen haben. Leo braucht, um seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, mehrere Gläser Bordeaux. Dann aber bricht es aus ihm heraus: "Du kannst doch nicht wollen, dass ich mich nun auch noch 'körperlich' (oder libidinös, wie sich der Alkohol ausdrückt) in dich verliebe! Was hättest du davon?"

Das Bemerkenswerte an dieser Frage ist, dass sie sich selbst ganz als rhetorische begreift, so, als würde sich eine Antwort erübrigen. Ein Mensch alten Schlages hätte spontan erwidert: Alles! Denn was bin ich, was nicht hier, in diesem Körper, physisch vor dir anwesend wäre? Aber in diesem Buch ist die Trennbarkeit von Körper und Bewusstsein mit einer größeren Radikalität vorausgesetzt als je in der abendländischen Metaphysik das Zweierlei von Leib und Seele. Der dreidimensionale, Luft verdrängende und verbrauchende Hautsack erscheint als zweifelhafteste Zugabe des wahren Wesens; Engel sind grobstoffliches Gewürm daneben. Schließlich finden die beiden doch noch als räumliches, fleischliches Paar zusammen. Es ist die unspektuläre, aber wohl unvermeidliche Rückkehr eines Raketenflugs auf den konventionellen Boden des Liebesromans.

Verliebte Festplatten

Die interessanten Sphären wurden zuvor berührt. Die Wissenschaft befasst sich bereits mit dem noch höchst spekulativen, aber doch schon realen Problem, ob intelligente Maschinen (denn dass sie intelligent sind, scheint nunmehr ausgemacht) so etwas wie Bewusstsein und Selbstbewusstsein zu erwerben vermögen. Die vorläufige Auskunft lautet offenbar: sie vermögen es nicht, so lange ihre Speicherinhalte sich nicht mit einer körperlichen Existenz verschränken, die die Rückkopplung des bloß Gewussten mit der Kategorie der unwiderruflichen Erfahrung erlaubt - dass eine Kerzenflamme "heiß" ist, erschließt sich in seiner tieferen Bedeutung nur einem Wesen, das sich schon mal den Finger dran verbrannt hat.

Aber man kann auch in die Gegenrichtung fragen: Unter welchen Umständen kann die Erfahrung eines Ich sich von seiner körperlichen Grundlage emanzipieren? Da steht uns möglicherweise in diesem jungen Jahrhundert Einiges bevor, was wir noch gar nicht so genau erörtert wissen möchten. Die wahren Antizipationen geschehen im Gewand des Altvertrauten, weil wir nämlich in unserer Ängstlichkeit solcher Verkleidungen bedürfen; und wo die entscheidende Wendung geschieht, sieht sie auf Anhieb gern erst mal albern aus - so albern eben wie diese beiden verliebten Festplatten Leo und Emmi mit all ihren Finten und Neurosen. Man lasse sich nicht täuschen: Hier könnte sich die Tür einen Spalt in die Zukunft geöffnet haben.

DANIEL GLATTAUER: Alle sieben Wellen. Roman. Deuticke Verlag, Wien 2009. 222 Seiten, 17,90 Euro.

© SZ vom 15.6.2009/bey - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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