Rasenfetischismus:"Werde ich jemals wieder mähen können?"

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Zeig' mir deinen Rasen und ich sage dir, wer du bist. Beim Kampf um den perfekten Vorstadtrasen ist dem Amerikaner jedes Mittel recht: Vom Unkrautvernichter aus dem Militärlabor bis zum blutigen Mord.

Petra Steinberger

Charles Martin saß wie so oft auf seiner Veranda in Union Township, Ohio, als er den Nachbarssohn dabei erwischte, wie der durch seinen scharf gemähten Vorgarten lief. Da holte Charles Martin sein Gewehr und schoss. Der Junge brach auf dem Rasen zusammen. Martin schoss noch einmal, aus nächster Nähe. Der Junge war auf der Stelle tot. "Hat mich genervt", erklärt Martin später, "hat Sachen in meinem Garten zerstört." Ein extremer Fall von "lawn rage", von Rasenfuror war das, sagten Psychologen danach - aber bei weitem nicht der einzige. Jedes Jahr gibt es derartige Zwischenfälle, in einer idyllischen Vorstadt irgendwo in Amerika, dort, wo der Rasen noch unkrautfrei und grün ist und so exakt geschnitten wie der Crewcut eines Marines.

Dies sind die Wochen, in denen Gartenbesitzer der nördlichen Hemisphäre ins Freie drängen, um die Schäden zu begutachten, die der Winter hinterlassen hat im hauseigenen Park. Aber nirgendwo sonst auf der Welt steckt im Rasengrün so viel Emotion und Wettstreit der Werte wie im amerikanischen Vorstadtrasen: Geschichte und Selbstverständnis, Identität und Hochmut, im Guten wie im Schlechten, und, als "lawn rage" eben auch im Extremen.

Da gibt es die Frau, die so unglücklich war über den Zustand ihres Rasens, dass sie fünf Quadratmeter davon ausgrub und zur Bodenanalyse ins örtliche Gartencenter brachte. Da gibt es den Mann, der seinen gesamten Vorgarten in Brand setzte, um die Maulwürfe zu vertreiben. Und da gibt es vor allem jene unnachahmliche Frage, die der Schauspieler Richard Widmark seinen Ärzten stellte, nachdem er bei einem Unfall mit dem Rasenmäher fast ein Bein verlor: "Werde ich jemals wieder mähen können?"

Zwanghaft...

"In Amerika", sagt Ted Steinberg, Umwelthistoriker und Autor des Buches "American Green", "in Amerika ist der Rasen zum Fetisch geworden." Und als ob das nicht genug wäre, gibt es eine Menge Hinweise, dass Zwanghaftigkeit und obsessive Rasenpflege zusammengehören. Diese wiederum können deshalb so schnell zum "lawn rage" werden, weil der perfekte Vorstadtrasen zwar als so uramerikanisch gilt wie Apfelkuchen, andererseits aber vegetationsbedingt derart unamerikanisch ist, dass man selbst mit bester Pflege und größtem Zeitaufwand weniger Erfolg hat als Sisyphos.

Denn die Heimat jener sattgrünen Grasmatte, das hehre Ziel jedes Hauseigentümers, liegt in den nebelnassen schottischen Hochebenen, keineswegs in Nordamerika und schon gar nicht da, wo Suburbia und der Vorstadtrasen inzwischen vor allem wuchern: im feuchtheißen Süden und in den Wüsten des Westens. Rasen ist fast überall in Amerika ein Stück unnatürliche Natur, auf der Flucht vor der Hitze und immer in Gefahr, zu dem zu werden, was auf keinen Fall geduldet werden kann: eine Wiese, schlampig wuchernd, von so genannten Wildkräutern und Unkraut übersäht oder vertrocknet.

Während der Rasen in all seiner Aufwändigkeit das perfekte Symbol geworden ist für vorstädtisches Privatidyll und endlosen Konsum, wurde er auch Zeichen für Konformismus und Ressourcenverschwendung. Der Umsatz der riesigen Industrie, die sich allein mit Rasenpflege beschäftigt, wird auf 40 Milliarden Dollar jährlich geschätzt, mehr als das Bruttoinlandsprodukt von ganz Vietnam. Rasen bedeckt in den Vereinigten Staaten zwischen 10 und 20 Millionen Hektar Land, das ist mindestens doppelt so viel, wie für den Anbau von Baumwolle genutzt wird, deren größter Exporteur Amerika immerhin ist. Was im Land der immer noch recht endlosen Weiten eigentlich kein Problem wäre.

Doch in Zeiten des Klimawandels und der zunehmenden Trockenheit in großen Teilen des amerikanischen Westens ist nicht unerheblich, dass 30 Prozent des Brauchwassers an der Ostküste und 60 Prozent an der Westküste der Bewässerung des Rasens dienen. Und dazu kommen die weit mehr als 30 Millionen Kilogramm Pestizide und Düngemittel, die jährlich über amerikanischem Rasen ausgestreut werden - von denen 80 Prozent in der Kanalisation und im Grundwasser landen.

Das beliebteste Unkrautvernichtungsmittel war jahrzehntelang 2-4-D, vom amerikanischen Militär während des Zweiten Weltkrieges entwickelt und Hauptbestandteil des Entlaubungsmittels Agent Orange. Tonnenweise wurde es bis zu seinem Verbot über der Landschaft verstreut. Manche Besitzer halten ihren Rasen für so giftig, dass sie ihre Kinder nicht auf ihm spielen lassen. Er ist eine grüne Wüste, in der fast kein Leben mehr existiert. Nutzpflanzen wie Klee, die ihn mit dem notwendigen Stickstoff versorgten, wurden vernichtet, die dann fehlenden Nährstoffe wie Stickstoff künstlich wieder zugeführt - ein endloser und für die Düngemittelindustrie äußerst profitabler Kreislauf.

Bis heute wird, trotz des steigenden Umweltbewusstseins, das knappe Wasser oft zur Rasenpflege eingesetzt - auf Anordnung der örtlichen Bürgerversammlungen. Und wehe dem, der seinen Rasen nicht in Stand hält. Viele Gemeinden haben in ihren Satzungen festgeschrieben, wie lange das Gras werden darf, ehe es gemäht werden muss. Bei Unterlassung drohen Geldbußen, manchmal sogar Gefängnis. Immer wieder stürmen ums Allgemeinwohl (und um ihre Grundstückspreise) besorgte Bürger nächtens in den Dschungel eines unwilligen Nachbarn und bearbeiten die Natur, bis sie wieder wie ein amerikanischer Rasen aussieht.

...überdüngt

Gartenbesitzer gehen im Gegenzug bis vor die Bundesgerichte, um ihr Recht auf eine "naturnahe" Landschaft einzuklagen; damit wollen sie um den vorgeschriebenen Rasenkantenschnitt herumkommen. Die ästhetischen Vorschriften vieler Gemeinden, klagen progressive oder ökologisch inspirierte Landschaftsarchitekten, perpetuieren einem Schönheitsideal, das aus der Zeit des Kalten Krieges stammt. Und damals, in den fünfziger Jahren, entsprach die Monokultur des Vorgartenrasens tatsächlich perfekt dem Konformismus der jungen Suburbs und der Massenproduktion.

In diesen Jahren des "Gruppenlebens", wie es der Historiker William Chafe genannt hat, war jede Art von Individualismus suspekt. Niemand wollte auffallen, gar herausfallen aus der friedlichen Vorstadtkommune. Seine Hingabe an diese sozialen Ideale bewies man, wenn man wie alle anderen am Wochenende den Rasen mähte und ihn so lange düngte und spritzte, bis das letzte Kleeblatt und der letzte Löwenzahn verschwunden waren.

Denn letztlich geht es beim Kampf um den Rasen immer um widerstreitende Werte. Als das Ich sich wieder hervortraute in den Suburbs, wurde bei den einen das Gras immer länger - und manche wagten Experimente mit der heimischen Vegetation. Wer einen solchen Vorgarten hat, hält sich für freiheitsliebend, spontan und naturliebend. Solche, die besessen sind vom perfekten Grün, sehen sich dagegen als gute Nachbarn, als diszipliniert, verantwortungsbewusst und fleißig. Ein "ungepflegter" Rasen ist für sie Zeichen von Faulheit und von fehlendem Anstand. Und ja, vielleicht gar von Kommunismus.

© SZ v. 4.5.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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