Popmusik:Intimität und Opulenz

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Wie Max Rieger, Sänger und Kopf der Post-Punkband "Die Nerven", mit seinem zweiten Solo-Album den zwei Fallen des deutschen Indie-Pop entgeht.

Von Juliane Liebert

Max Rieger, Sänger und Kopf der völlig zu Recht gefeierten jungen deutschen Neo-Post-Punkband Die Nerven, hat unter dem Namen All diese Gewalt sein zweites Solo-Album veröffentlicht: "Welt in Klammern". Und bevor es losgeht, sei gesagt: "All diese Gewalt" ist wirklich ein überaus schöner Bandname - halb Punk, halb altmodische Phrase. Es gibt ja zu wenig altmodische Phrasen als Bandnamen, bei denen man noch das zart Empört-seufzende mithört, die Tante am Kaffeetisch, beide Hände auf der Tischplatte: "All diese Gewalt, es ist eine Schande. Iss doch noch ein Stück Kuchen, Junge."

Die besagte imaginäre Tante würde diese Musik wahrscheinlich weder mögen noch verstehen, sie wäre aber womöglich dennoch beeindruckt, einfach, weil Max Rieger sich so viel Mühe damit gemacht hat. Hunderte Tonspuren hat jeder Song, von denen er für das Projekt in den vergangenen zwei Jahren 160 Songs aufgenommen hat, weswegen er demnächst auch noch ein paar Bonustracks veröffentlicht. So 18, sagt er. Auf dem Album selbst sind nur zehn Songs.

Wirklich bemerkenswert ist an All diese Gewalt jedoch, dass das Projekt nicht in die beiden Fallen des deutschen Indiepop tappt. Die da sind: entweder krampfhaft Avantgarde sein zu wollen oder aber um jeden Preis den eingängigen, aber auch nicht völlig anspruchslosen Popsong schreiben zu wollen. "Ich interessiere mich - bis zu einem gewissen Grad - für die Musik, die alle hören. Ich will herausfinden, wie und warum Musik funktioniert, die alle mögen", sagt Rieger.

All diese Gewalt ist ruhiger als Die Nerven, Ein-Mann-Studio-Musik. Aber Rieger bleibt immer am sinnlich-musikalischen Geräuschmotiv und einer darauf aufbauenden Dramaturgie orientiert, statt sich in Studio-Spielereien zu verlieren. Dadurch wirkt die Musik nicht kalkuliert. Man hat vielmehr das Gefühl, dass hier wirklich jemand in erster Linie mit einem bestimmten Sound arbeitet, weil er eben seine Leidenschaft ist, sein Medium. Das Ergebnis ist dabei klanglich vielschichtig, ohne unhörbar experimentell zu werden.

Charakteristisch ist das langsame Verschieben der Songstrukturen. Es ist Kompositionsprinzip, das in der elektronischen Musik verbreiteter ist als im Pop. Rieger probiert also, die Dramaturgie von Minimal Techno in Gitarrenmusik zu übertragen. Möglich ist das natürlich nur deshalb, weil man mit der heutigen Computertechnik Hunderte von Spuren allein in seinem Zimmer übereinander schichten kann. So ermöglicht der Fortschritt der Technik nicht nur neue Spielrichtungen von Musik, sondern verändert auch bereits bestehende. Es klingt trivial, aber dass man solche Musik erst machen kann, seit es Drumcomputer gibt, wird oft ausgeblendet. Nur noch wenigen ist bewusst, welchen Aufwand Mehrspuraufnahmen einmal bedeutet haben und wie spät sogar heute steinzeitlich wirkende 8- oder 16-Spur-Geräte erst verfügbar waren.

Und im Fall von "Welt in Klammern" geht es sogar noch um einen subtileren Zusammenhang: um die Vereinbarkeit von Intimität und Opulenz nämlich. Anders gesagt: Die Musik klingt, als könnte sie nur unter der Voraussetzung entstehen, dass ihr Komponist mit der Technik auf engstem Raum allein sein und arbeiten kann.

Die vielen Spuren tun der Platte allerdings nicht nur gut. An manchen Stellen wird es arg bombastisch. Das Schlagzeug wiederum, das bei Musik dieser Art gern ignoriert wird, sollte man sich bei "Maria in Blau" nicht entgehen lassen, so wunderbar gewollt schludrig tappst es herum. In "Laut denken" wird sehr kunstvoll mit dem An- und Abschwellen der Spuren gearbeitet. Und der Groove im letzten Drittel von "Stimmen" ist famos.

Kurzum: Das allgemeine Geraune, Gebimmel und Geschepper geht einem zwar manchmal etwas arg weit, und textlich wird's hier und da allzu bedeutungsvoll. Aber die Texte sind weniger selbstverliebt als die der Hamburger Schule und nicht so ratgeberhaft wie die des deutschen Durchschnittspop. Die Frage ist natürlich, welche Wurzeln das Pathos hat: Ist es nur ein billiger Trick? Und dient es als Medium von Komplexität oder nur dem Verwischen von Widersprüchen und Aporien? Gleichviel, ein Lob der Ernsthaftigkeit für All diese Gewalt, und sei es nur für die Ernsthaftigkeit des Versuches. Nicht jede Art von Abgründigkeit lässt sich schließlich in einen schlanken Popsong gießen.

© SZ vom 15.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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