Pop:Unverzagt

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Tocotronic ist noch immer die klügste Pop-Band des Landes. Ihr neues Album verzichtet aber auf die ganze verspielte Intellektualität.

Von Jens-Christian Rabe

Nun, da Tocotronic-Festwochen sind, da die Veröffentlichung ihres ersten Albums "Digital ist besser" genau zwanzig Jahre her ist, es ein gefeiertes neues Album gibt, das elfte,und im Blumenbar-Verlag auch noch ein riesiger Jubiläumsprachtband erscheint, genannt "Die Tocotronic Chroniken", nun also kann es vorkommen, dass ein geschätzter Kollege im Büro steht - und den Totalverriss fordert. Das sei ja alles einmal ganz toll gewesen, aber inzwischen lieferten die doch seit Jahren nur noch prätenziösen Unfug, Qualgewitter. Da müsse man doch endlich mal dazwischengehen.

Genauso oft passiert es dieser Tage aber natürlich, dass man Verehrung erlebt, die sich für keinen Superlativ zu fein ist. Das Vorwort zu den "Chroniken" von den beiden Herausgebern Jens Balzer und Martin Hossbach ist noch beinahe zurückhaltend, wenn es dort heißt, Tocotronic sei die "schönste und klügste und bewegendste Gruppe", die dieses Land in den vergangenen zwanzig Jahren hervorgebracht habe. Den Vogel schoss der Musiker und Autor Kristof Schreuf ab. Er schrieb: "Wenn heute jemand Tocotronic kritisiert, wirkt das, als würde er sich mit dem Horizont anlegen." Beim Bachmannpreis, für den er 2003 nominiert war, gewann Schreuf nichts. Der Große Preis der Tocochroniken 2015 dürfte ihm sicher sein.

Das Vertrackte ist nun, dass womöglich beides ganz und gar richtig ist, weshalb man - bevor wir die Band feierlich in die Tonne treten und die dann auf einem purpurnen Samtkissen in den Himmel heben wollen - vielleicht lieber erst einmal ins neue Album hineinhorcht, das übrigens keinen Titel hat. Wegen des tiefroten Covers darf es aber ehrfürchtig "Das rote Album" genannt werden. Auf ebenjenem befindet sich nun neben vielem, das für die einen kaum erträglich und für die anderen das Größte überhaupt sein dürfte (und zwar aus denselben Gründen), eben auch der Song "Solidarität", den wir hier ganz objektiv und im Vollbesitz unserer geistigen Kraft zum deutschen Popsong des Jahres erklären wollen. Mindestens.

Musikalisch ist er allerdings zunächst ein ganz einfacher, im Grunde unspektakulär schmeichelnder Folksong. Mittelzügig wird im Vordergrund eine akustische Gitarre etwas gezupft, etwas geschrubbt, bevor sich von hinten Streicherflächen hineinschieben. So klar und einfach, wie einem das ins Ohr geht, ist es aber dann doch nicht, weil der Song atmosphärisch verblüffend schräg arrangiert ist.

Während die Gitarre also ganz vergnügt vor sich hinrollt, arbeiten die Streicher eher klagend-schwermütig dagegen. Dadurch jedoch, das sie es etwas ungelenk-dissonant tun, wirkt es, als wollten sie es dann doch wieder nicht sooo elegisch meinen. Als fragten sich die Violinen permanent beim Spielen selbst, ob sie das jetzt wirklich so machen können, so klischeehaft violinig herumzittern: "Das glaubt uns doch kein Mensch." Wobei einem das aber eben nicht aufgedrängt wird, sondern vielmehr untergejubelt, wie es sich bei wirklich großen Popsongs gehört. Und dann ist da noch Dirk von Lowtzows Gesang. Über die Jahre ist er ja unüberhörbar theatraler geworden, überdeutlicher, bei seinem Soloprojekt Phantom/Ghost kippt das schon mal mit voller Absicht ins wirklich gewöhnungsbedürftig Operettenhafte. Aber ganz so einfach ist es auch mit diesem Gesang nicht. Neben den fast grotesk exakt gesungenen Silben, steht schließlich plötzlich wieder eine brüchige verwischte Zeile oder ein gerade so erreichter hoher Ton, sodass ein wirklich hinreißendes, polymorphes,prekäres Gleichgewicht entsteht, das das eigentliche Herz dieses Songs, den Text, erst richtig zum Strahlen bringt. "Solidarität" ist eine große Hymne des Trostes. Und wenn es nicht so scheußlich abgedroschen wäre und ungerecht, dann würde man es Literatur nennen, Dichtung. Tun wir nicht.

Wir sagen: Die schönsten Verse von Bert Brecht könnten hier gerade so mithalten, aber unglücklicherweise haben sie selten eine Tonspur und wenn, dann ist sie nicht von Tocotronic. Aber lassen wird das. Zitiert sei lieber der Song in voller Länge, weil er wirklich so schön und klug und bewegend ist, wie in ihren besten Momenten hierzulande womöglich wirklich nur diese eine Band sein kann:

"Ihr, die ihr euch unverzagt / mit der Verachtung plagt / Gejagt an jedem Tag / von euren Traumata / Die, die ihr jede Hilfe braucht / unter Spießbürgern Spießruten lauft / Von der Herde angestiert / Mit ihren Fratzen konfrontiert / Die ihr nicht mehr weiter wisst / Und jede Zuneigung vermisst / Die ihr vor dem Abriss steht // Ihr habt meine Solidarität. // Ich weiß, dass ihr ein' Schutzschild braucht / Denn eure Ängste kenn ich auch/ Von der Herde angestiert / mit irren Fratzen konfrontiert / Wenn ich nicht mehr weiter weiß / Und ich mich in Fetzen reiß / Wenn Verstörung mich umweht / Hab ich deine Solidarität / Wenn ihr nicht mehr weiter wisst / Und jede Zuneigung vermisst / Wenn ihr vor dem Abriss steht// Ihr habt meine Solidarität / Ihr habt meine Solidarität / Ihr habt meine Solidarität."

So. Und wer jetzt noch nicht hingerissen ist, der sei gefragt, warum er eigentlich noch liest und nicht längst versucht, den Song irgendwo zu hören. Doch um ein paar Sekunden Aufmerksamkeit für diesen Text sei noch gebeten: Da war ja noch das lästige Paradox vom Anfang, dass wahrscheinlich die Freunde und die Feinde Tocotronics recht haben, und zwar auch noch aus demselben Grund.

Diese Band ist nämlich nicht einfach nur klug. Sie ist vor allem ständig auf der Hut, besonders vor sich selbst. Es wird ja über einen Popmusiker immer ein bisschen zu gern gesagt, dass er klug sei, obwohl meistens doch eher gemeint ist, das er offenbar nicht ganz so dumm war wie erwartet. Bei Tocotronic hat die Klugheit echte Konsequenzen: Wenn sie Interviews geben, nachdenken und komponieren gibt's Konstruktion nicht ohne Dekonstruktion, Affirmation nicht ohne Re-Affirmation, Beobachtung nicht ohne Selbstbeobachtung, Hü nicht ohne Hott. Anders gesagt: Es ist gut möglich, dass sich in keiner anderen Bandchronik je ein Kommentar wie dieser von Dirk von Lowtzow fand oder finden wird: "Gleichzeitig möchten wir uns (. . .) auch nicht zwanghaft jugendlich benehmen. Das wäre peinlich. Obwohl Peinlichkeit in der Kunst natürlich auch wichtig ist. Darüber mache ich mir permanent Gedanken - was ich aber auch nicht schlimm finde. Ich möchte ja kein selbstzufriedener, sich nicht mehr hinterfragender, bürgerlicher Großkünstler werden, der im Reinen mit sich ist. Nein: Man darf nie im Reinen mit sich sein - man muss zaudern, zweifeln, sich selber furchtbar finden."

Es ist kein Zufall, dass man sich mit der Band sehr ausführlich über Pop und Präzision unterhalten kann, und es neben "Solidarität" viel zu entdecken gibt auf dem neuen Album. Es ist ein Konzeptalbum über die Liebe geworden, aber fern aller schaurigen Liebesklischees des Pop, fern aber auch der postmodern-verspielten Intellektualität, die so viele große Songs und Slogans Tocotronics hervorgebracht hat. Diesmal, so Bassist Jan Müller in einem Interview, sollte ausdrücklich nicht um den heißen Brei herumgeredet werden. Und es ist natürlich mindestens so lustig wie beglückend, dass es im großen Poplexikon deshalb jetzt Zeilen gibt wie: "Unter deiner Decke fasst mich das Chaos an." Musikalisch ist es dabei ein angenehm schwebendes, poppiges Album geworden, auch wenn neben "Solidarität" echte Gesamtkunstwerke womöglich fehlen.

Und wo war jetzt noch mal das Problem? Ach, eigentlich gibt es doch keins. Dies ist bitte eine Band für alle, die sowohl verstehen können, dass Jan Müller - wie man im Buch erfährt - seine erste Band "Punkarsch" nannte, als auch, was Friedrich Liechtenstein meinte, als er sagte: "Wenn du eine Scheiß-Show von mir siehst, ist das keine Scheiß-Show, sondern ein sehr genauer Film von einer Scheiß-Show."

© SZ vom 09.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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