Pop:Mehr vom Leben

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Kein Album wurde jemals in der ersten Erscheinungswoche so oft per Streaming angehört wie das neue Album "More Life" des Rap-Superstars Drake. Und diese Art der Nutzung hat längst auch die Musik selbst verändert: Sie wird zur Tonspur des Alltags.

Von Jens-Christian Rabe

384,8 Millionen Mal wurde das neue Album "More Life" des Rap-Superstars Aubrey Drake Graham alias Drake nun in der vergangenen ersten Erscheinungswoche in den USA gestreamt. 384 800 000! Weit über eine Drittelmilliarde. So oft wurde in Amerika bislang noch kein Pop-Album in seiner ersten Woche im Netz abgerufen. Zahlen dieser Größenordnung bewegen sich jenseits des Vorstellbaren. Fassbarer ist die Zahl, mit der Drake gerade offiziell auf dem ersten Platz der amerikanischen Billboard-Charts landete: mit 505 000 guten alten "verkauften Einheiten" nämlich.

Fassbarer mag diese halbe Million sein, dennoch verdunkelt sie eine Entwicklung, ohne die längst weder das zeitgenössische Pop-Geschäft noch der Pop selbst zu verstehen ist. Die Geschwindigkeit der Veränderung der Musiknutzung, die die neuen Zahlen belegen, ist tatsächlich atemberaubend. Die knapp 385 Millionen Streams der Songs von "More Life" sind schließlich satte 150 Millionen Streams mehr, als Drake mit seinem vorigen Album "Views" in dessen erster Woche erreichte. Und die 245 Millionen Streams von "Views" wiederum waren mehr als doppelt so viel wie die 115 Millionen Streams, die damals kurz zuvor Beyoncés Album "Lemonade" schaffte.

Die Geschwindigkeit, in der sich der Popkonsum wandelt, ist atemraubend

Wobei hier fein unterschieden sei zwischen der Nutzung von Musik und dem Umsatz, der mit ihr gemacht wird. Im Zeitalter von kostenlosen Streaming-Diensten wie Youtube und monatlichen Gebühren von selten mehr als 10 Euro bei den Abo-Streaming-Diensten bedeutet eine hundertmillionenfache Nutzung nicht Einnahmen von Hunderten Millionen Euro. Die amerikanischen Billboard-Charts, die bei der Chart-Erhebung das Streaming seit 2014 mitzählen (die deutschen Charts zogen 2016 nach), rechnet deshalb um. 1500 Streams zählen so viel wie ein regulär als Tonträger oder Download verkauftes Album. So erklärt sich auch die vergleichsweise kleine Zahl von knapp über 500 000 verkauften Einheiten des Nummer-eins-Albums "More Life" in seiner ersten Chart-Woche. Die 385 Millionen Streams der Songs des Albums werden - geteilt durch 1500 - als rund 257 000 Alben-Einheiten in das Gesamtverkaufsergebnis aufgenommen. Womit sich dann allerdings die oft gestellte Frage beantworten lässt, was eigentlich der so irrsinnig flüchtige Stream eines Albums für einen Umsatzwert hat.

Geht man von einem durchschnittlichen Albumladenpreis von 10 Euro aus, sind es ungefähr 0,7 Cent. Für eine Million Streams seiner Songs im Internet erhält ein Künstler also - damit wenigstens rechnet Billboard - 7000 Euro. Das ist mehr als nichts, aber doch viel weniger, als man als Außenstehender erwarten würde. Und wahrscheinlich sind die Billboard-Verantwortlichen sogar zu optimistisch. Genaues ist in der geschäftlich notorisch einsilbigen Branche nicht leicht zu erfahren, aber viele Anzeichen sprechen dafür, dass - wenn überhaupt - nur echte Stars 0,7 Cent per Stream einnehmen. Der Großteil der Künstler dürfte weit schlechtere Deals haben. Das Internet hat das Pop-Geschäft bestimmt nicht gerechter gemacht.

Was das Netz allerdings ermöglicht hat, ist ein hierzulande zuvor kaum möglicher Erfolg für Genres der zeitgenössischen schwarzen Musik. Der deutsche Markt für Rap und R'n'B entstand jenseits der klassischen Beobachtungsinstrumente.

Wenn ein R'n'B-Superstar wie Drake etwa ankündigt, ein paar Konzerte in Deutschland zu spielen, dann sind in den Ballungsräumen die größten Hallen in Windeseile ausverkauft. An der breiteren deutschen Medienöffentlichkeit gehen diese Massenereignisse jedoch weitgehend spurlos vorüber. Bei einer Pop-Sängerin wie der Britin Adele, deren Fans nicht primär Streaming-Dienste nutzen, sondern tatsächlich noch CDs kaufen, ist das vollkommen anders.

Die veränderten Nutzungsgewohnheiten haben aber auch das Produkt selbst, die Musik, schon massiv verändert. Auch dafür ist Drakes "More Life" ein gutes Beispiel. Adeles jüngstes, eher klassisch rezipiertes Album "25" enthält in der Standard-Version elf Songs. Auf "More Life" sind es exakt doppelt so viele. Zudem ist nicht zu überhören, dass diese 22 Songs völlig anders konzipiert sind als traditionelle Star-Hits mit ihrer zwanghaft zügigen Folge von effektvollen Refrains, Strophen und Hooks. Die Songs auf "More Life" sind eher edle, mitunter nahtlos ineinander übergehende, stark repetitive, manchmal avantgardistisch minimalistische Soundlandschaften, mal mit etwas mehr, mal mit etwas weniger tiefen Bässen, über die Drake dann mit seiner typischen, leicht leiernden Softie-Stimme rappt und singt.

Letztlich ist es Musik, die einen nicht für ein paar Minuten mit einem Knall aus dem Alltag herauslotsen, sondern als Tonspur durchs Leben hindurch navigieren will. Als Emo-Netz und Selbstbewusstseins-Verstärker, aber nie so dominant, dass es Situationen geben kann, bei denen man die Musik abschalten muss.

Dass Drake selbst sein neues Werk nicht als ein Album versteht, sondern als "Playlist", wirkt im ersten Moment vielleicht prätentiös, wie eine alberne PR-Distinktions-Idee, ist in diesem Sinn aber nur logisch. Etwas, das so konsequent versucht, neu zu sein, muss auch einen neuen Namen haben dürfen.

© SZ vom 30.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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