Plattenkabinett:Die Alben des Jahres

Lesezeit: 5 min

Auf dem Weg in die afrokaribische Disco: Arcade Fire. (Foto: Korey Richey)

Popmusik ist wie Butterstullen schmieren, zumindest für Arcade Fire. Darkside machen Kopfhörermusik und der Ghostface Killah ist einfach nur da: Die Autoren unseres Plattenkabinetts haben ihre Alben des Jahres 2013 gekürt.

Von Jonas Beckenkamp, Johannes Kuhn und Sebastian Gierke

Für alle, die die vergangenen Jahre in musikalischer Einöde verbracht haben oder ein Herz aus Backstein haben, hier noch einmal zum Mitschreiben: Es gibt da diese Band, die seit ihrem ersten Tönchen irgendwie alles richtig macht. Die immer wieder gottverdammte Hits aus dem Ärmel schüttelt, als wäre das mit der Popmusik wie Butterstullen schmieren. Die cool genug ist, ihr eigenes Gesamtkunstwerk auf unprätentiöse Weise ständig zu erweitern. Zu der die Mädchen im Club genauso mit dem Hintern wackeln wie der Onkel mit dem Springsteen-Tick. Und die obendrein auch noch das ewig Gute ausstrahlt.

Arcade Fire heißt diese Kapelle - und jetzt bitte die Ohren gespitzt: Es handelt sich hierbei um die geilste Band der Welt, ganz egal, was andere hier schreiben. Das Gewese um ihr viertes Album "Reflektor" war in diesem Herbst so groß, dass mancher Kritiker schon den Sellout erschnüffelte. Die Promo fiel umfassend und ein wenig geheimniskrämerisch aus. Im Netz zirkulierten allerlei Hinführungen auf das neue Werk, Nervensäge Bono trat in einem 20-minütigen Konzertvideo auf und schließlich sollten Fans auch noch verkleidet zu Auftritten der Musiker erscheinen. Dabei ging fast unter, was auf der neuen Platte überhaupt zu hören ist.

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Auf "Reflektor" schleusen Arcade Fire den Gewohnheitshörer am Indierock-Türsteher vorbei mitten in die afrokaribische Disco. Dort pluckert und blubbert es, dass einem die Beinchen wie von selbst dahintänzeln. Verdubbte Rumpelbeats, Echo-Gesänge, leiernde Schifferklaviere - alles, was im Schwitzkasten des stickigen Dschungels an Sounderlebnissen vorstellbar ist, findet hier seinen Platz. Getragen werden die Songs von Synthiemelodien, die so wunderbar einlullend wirken, dass man am liebsten selbstvergessen von der Schaukel kullern würde.

Das bandführende Ehepaar Win Butler und Régine Chassagne hat sich zur Produktion mit den restlichen Mitgliedern des Ensembles nach Haiti verzogen, um ihrer Musik diese Entspanntheit einzuhauchen. Wo auf den vorherigen Alben noch die Weite Amerikas besungen wurde oder die Enge der Vorstadt, herrscht nun Urlaubsflair. Wer sich die Zeit nimmt, entdeckt in fast allen Liedern kleine, geschickt eingesetzte Schmeicheleien für den Sonnenuntergang: dezente Saxophone (wie im Titelsong "Reflektor"), eine Prise Afterhour-Romantik (wie im Überhit "Supersymmetry") oder Schwurbeltrompeten ("Flashbulb Eyes"). Das ist so vielschichtig, harmonisch und stimmig, dass einem Arcade Fire vorkommen wie Reiseleiter in eine musikalische Traumwelt. Noch Fragen?

Ach ja: Mit Co-Produzent James Murphy, der mit seinem Projekt LCD-Soundsystem ausschließlich geschmackssichere Discomusik vollbrachte, haben Butler, Chassagne & Co. genau den richtigen Mann mit auf die Insel genommen, um ihr Werk zu perfektionieren. Da ist es auch egal, ob "Reflektor" nun die beste Scheibe der Bandgeschichte ist oder nicht. In einem Popjahr, das nur wenige Höhepunkte auf Albumlänge hervorbrachte, strahlt diese durchweg charmante, zuckersüße Platte wie ein Fixstern über dem Rest. (Jonas Beckenkamp)

Der Nikolaus stopft dieses Album gerne in die Socken von Menschen, die an Weihnachten in der Dominikanischen Republik urlauben.

Diese Alben waren ebenfalls Anwärter auf den Titel "Platte des Jahres": DJ Koze - "Amygdala"; Palpitation - "Palpitation"; Coma - "In Technicolor".

Wer dieses Album in 10 Jahren auflegt, denkt: Call it a Klassiker.

Falls Sie die Playlist nicht abspielen können, melden Sie sich bitte bei Spotify an.

Ich, Johannes Kuhn, möchte ein Geständnis ablegen. Ich habe kein echtes Album des Jahres. Zumindest nicht, wenn ich dem Jahrgangsbesten das Prädikat "Genre-erschaffend, Genre-zerstörend oder Genre-transformierend" verleihen möchte.

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Das neue Arcade-Fire-Album höre ich gerne, nur ist das nicht ihr bestes - und daran wird eine Band ja im Musikkritik-Kapitalismus gemessen. Außerdem hat es sich bereits der Kollege ausgesucht. Daft Punk machen mir ein schlechtes Gewissen, weil ich mich noch nicht retro fühlen mag, obwohl ich doch eine Hipsternerd-Brille trage (nur zum Lesen!). Die Yeah Yeah Yeahs? Hätte ich nicht beim Sport hören dürfen, ich Banause. Turbostaat? Tolles Konzert, aber das Album ist nicht ihr Bestes. Undsoweiter.

Ich erwarte also Volltreffer, den perfekten Moment, die Begeisterung eines Last-Minute-Korbs beim ersten Hören. Kurz: Es ist kompliziert.

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Denken wir mal ans Wesentliche. Eigentlich geht es ja nicht darum, was der musikalische Verstand sagt, sondern um die Botschaft des Daumens. Der Daumen, der auf dem Telefon die Tracks anwählt und in den Repeat-Modus stellt. Die Alben, die einen begleiten, weil sie nicht per se großartig sind, sondern weil sie einfach da sind. Immer wieder, als Soundtrack des Alltags.

Wenn dies das Kriterium für mein Album des Jahres ist, dann habe ich 2013 einen Favoriten: Ghostface Killahs "Twelve Reasons To Die", produziert von Adrian Young. Musikalisch würde ich es als Stream-of-Consciousness-Rap gemischt mit Soul und Soundtrack-Samples bezeichnen. Irgendwo auf der Schiene zwischen Kanye West und El-P.

"Twelve Reasons To Die" ist ein warmes Album, das nicht zu viel Konzentration erfordert, aber auch fesseln kann. Dessen Songs nicht übertrieben auf Hörbarkeit getrimmt sind, aber trotzdem (oder deswegen) nie langweilig werden. Das Album ist für mich aber auch, obwohl es sicherlich innovativere Künstler gibt, ein weiterer Beweis dafür, dass HipHop weiterhin das spannendste Musikgenre der Gegenwart ist. Das sagen mir zumindest Herz, Verstand - und Daumen. (Johannes Kuhn)

Der Nikolaus stopft dieses Album gerne in die Socken von Menschen, die an Weihnachten einen kiffen oder mit der S-Bahn im Kreis fahren.

Diese Alben waren ebenfalls Anwärter auf den Titel "Platte des Jahres": Palma Violets - "180", Rise Against - "Rpm 10" (Re-Release); Death Grips - "Government Plates".

Wer dieses Album in 10 Jahren auflegt, denkt: Wu Tang Clan ain't nothing to fuck with.

Falls Sie die Musik nicht abspielen können, melden Sie sich bitte bei Spotify an.

Wie sich diesem Album nähern? Einem schwerelosen Koloss. Vielleicht einen Umweg machen. Einen Umweg über ein anderes Werk von Nicolas Jaar: Seinen Essential-Mix aus der legendären Reihe des britischen Radios BBC 1. Zwei Stunden Musik, eigene Tracks, dazu Angelo Badalamenti , Aphex Twin, Keith Jarret, Nikita Quasim, oder Beyoncé Knowels.

Wie er furchtlos Marvin Gay mit Ricardo Villalobos mixt! Wie er Charles Mingus' "Myself When I'm Real" in Bill Callahans "America" übergehen lässt! Und dann, schon nach wenigen Sekunden, den stoisch-repetitiven Beat in ein Knister-Sample überführt. Wie er schließlich in einer entschleunigten Version von "The Little Heart Beats So Fast" landet, einem Ambient-Track des Techno-Produzenten The Field! Das ist, im wahrsten Sinne des Wortes: unfassbar.

Selten wurden einem die grenzenlose Intelligenz und die intelligente Grenzenlosigkeit von Pop besser vorgeführt als in diesem Mix. Jaar offenbart Popwelten voller Möglichkeiten, unendliche Welten, die er, der erst 23-Jährige New Yorker mit chilenischen Wurzeln, vermessen und durchdrungen hat wie kaum ein anderer im Moment. Daraus speist sich sein Selbstbewusstsein. Das Selbstbewusstsein eines Romantikers, das es ihm auch erlaubt, einfach zu vergessen.

Das produktive Vergessen führt Jaar auf "Psychic" vor, dem ersten Album des Projekts Darkside, das er zusammen mit seinem ehemaligen Tour-Gitarristen Dan Harrington gegründet hat. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Auch Darkside klingt immer informiert, immer klug. Aber die Tracks lassen Leerstellen, Jaar will hier nichts beweisen.

Im Gegenteil. In dieser Musik staut sich die Zeit, Tagträume entstehen beim Hören wie von selbst. Schleppende, sich plötzlich auflösende Beats, hingetupfte Post-Rock-Momente, ein paar Gitarrenakkorde: "Psychic" ist Kopfhörermusik. Und die Einsamkeit unter den Kopfhörern ist überwältigend.

Diese Musik will die Erosion, nicht die Explosion. Sie strebt nicht auf einen Höhepunkt zu, vielmehr wird in ihr der wunderbare, Fin-de-siècle-hafte Verfall zum Prinzip erhoben. Die mäandernden, oft antidramatischen, verdrehten Lieder stellen der überdrehten und ewig zielgerichteten Dynamik unseres Alltags etwas entgegen. Etwas Großes, etwas, das einen an das Wort des Dichters erinnert: Was man im Leben verpasst, ist das Leben.

Und deshalb ist "Psychic" das Album des Jahres. Ganz egal, was andere schreiben. (Sebastian Gierke)

Der Nikolaus stopft dieses Album gerne in die Socken von Menschen, die sich an Weihnachten unter Kopfhörern vor ihrer Familie verstecken wollen.

Diese Alben waren ebenfalls Anwärter auf den Titel "Platte des Jahres": Jon Hopkins - "Immunity"; King Krule - "6 Feet Beneath The Moon"; David Bowie - "The Next Day".

Wer dieses Album in 10 Jahren auflegt, denkt: Gültige Popmusik, immer noch gültige Popmusik.

In eigener Sache: Am kommenden Freitag, 20. Dezember, stellen Ihnen die anderen Autoren des Plattenkabinetts ihre Lieblingplatten 2013 vor.

Falls Sie die Playlist nicht abspielen können, melden Sie sich bitte bei Spotify an. Unten finden Sie alle Platten, die in dieser Rubrik bisher besprochen wurden:

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