Oper:Die traurigste Geschichte

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Der Counter Xavier Sabata singt "Kaspar Hauser" in Augsburg

Von Egbert Tholl, Augsburg

Am 26. Mai 1828 tauchte in Nürnberg ein junger Mann auf, der merkwürdige Laute von sich gab, absonderlich sprach, sich seltsam bewegte und eine eigenartige Geschichte erzählte. So wenig er wusste, wer er selber war, so sehr war er überzeugt, jahrelang in einem Verlies gefangen gehalten worden zu sein, ohne Kontakt zu Menschen. Manisch sprach er einen Satz, immer wieder: "A söchtener Reiter möchte ich wern, wie mein Voter aner war." Kaspar Hauser wurde schnell eine Sensation, er wurde begafft, untersucht und vermessen, lebte ein paar Jahre unter den Menschen und schied dahin, ermordet wohl, vielleicht, weil er ein Geheimnis barg. Der Fall Kaspar Hauser hat schon viele Menschen beschäftigt, als Kriminalgeschichte und als Phänomen, Peter Handke schrieb ein Stück über ihn, Werner Herzog drehte einen Film, Hans Thomalla machte aus dem Stoff eine Oper. Die, ganz einfach "Kaspar Hauser" genannt, hatte am 9. April vergangenen Jahres ihre Uraufführung in Freiburg. Und da sie koproduziert wurde vom Theater Augsburg, hat sie nun dort ihre Premiere, am 23. April.

In der Zwischenzeit jedoch kam den Augsburgern für die Zeit der großen Renovierung ihr Theater abhanden, und so wird die Oper, ein Auftragswerk, das die Ernst von Siemens Musikstiftung finanziert hat, selbst zum Findelkind. Das Augsburger Textilmuseum gewährt ihr einen prächtigen Unterschlupf, der über wenig Theatertechnik verfügt, weshalb von der Inszenierung von Frank Hilbrich eher Zitate übrig bleiben. In Freiburg hatte der Bühnenbildner Volker Thiele viel Schlamm auf der Bühne platziert - Bild für die Kreatürlichkeit Hausers, Bild für Archaik, Prometheus, Golem, auf jeden Fall fremd. In Augsburg gibt es ein bisschen Schlamm in der Tupperdose.

Ach, das macht gar nichts, denn Hans Thomallas Musik wirkt als Theater an sich und ist eine ziemlich grandiose Übertragung der Geschichte. Thomallas Oper vermittelt eine tiefere Erkenntnis, als sie der Versuch einer Dokumentation forensischer Wahrheit erreichen könnte. Bei der ersten Orchesterhauptprobe im Textilmuseum geht es noch wild zu. Während der FC Bayern sich der Sommerpause in der Champions League nähert, wird hier richtig gearbeitet und nebenher ein Museumsraum in eine Art Theater verwandelt. Ein Klang ist im Raum, eine Art installatives Vorspiel, vielleicht eine beziehungsreiche Obertonsammlung, es flirrt wie die Luft in der Wüste im Sonnenlicht. Das Orchester ist gut in Schuss.

Dann beginnt die Oper, Bürger berichten von ihrer ersten Begegnung mit Kaspar Hauser. Sie stellen sich vor, nennen Alter, Herkunft, Tätigkeit. Sie besitzen eine Biografie. Hauser, der andere, besitzt so etwas nicht. Aber er besitzt eine Stimme, die nun schier explodiert in einem einzigen Ton, worauf die singenden Bürger ihn, den Kaspar, ansehen wie ein seltenes Tier. Bald werden sie beginnen, dieses Individuum zu erkunden und es dabei ausstellen als Sensation. Wobei, da ist schon etwas Wahres dran, denn den Kaspar Hauser verkörpert in Augsburg wie schon in Freiburg Xavier Sabata. Also Sensation.

Passagen des Gesangs in dieser Oper verschwimmen mit dem Orchestersatz; da werden Vokale zerdehnt, bis sie nur noch Klang sind, um gleich darauf von heftig akzentuiertem Parlando abgelöst zu werden. Hauser selbst ist einerseits autonom, andererseits dem Magnetismus seiner Umgebung unterworfen. Es zieht ihn an, es stößt ihn ab, er ist immer im Fokus. Ein Akkordeon erklingt; eigentlich ist das ganze Orchester eines, ein schnaufender, oszillierender Organismus.

Der Countertenor Xavier Sabata ist den Umgang mit Neuer Musik gewohnt. Seit er 2009 in Freiburg mit Calixto Bieito Ligetis "Grand Macabre" erarbeitete, wurden Stücke für ihn geschrieben und bestehende von ihm aufgeführt. Er mag es: "Moderne Stücke haben immer eine besondere theatralische Energie. Sie sind komplexer. Es geht nicht unbedingt darum, schön zu singen." Er fühle sich darin als Performer kompletter, er will mit dem Singen Geschichten erzählen.

Und das hat einen guten Grund. Sabata hat Saxofon studiert und als Schauspieler gearbeitet, bis er 26 war. Immer schon hatte er daneben die Barockmusik geliebt, und gleichzeitig fehlte ihm beim reinen Schauspiel etwas. Die Musik. Und so beschloss er, zurück an die Hochschule zu gehen, um Gesang zu studieren. "Ich wusste damals nicht, was ein Counter ist. Aber schnell zeigte sich, dass es einfach ist, mit hoher Stimme zu singen."

Nach einem Jahr sang er William Christie vor, wurde aus 400 Bewerbern in dessen Akademie aufgenommen. Am Anfang sei alles sehr schnell gegangen mit seiner Karriere. Und: "Ich habe keine Zeit verschwendet." Sein Vorteil als Sänger war natürlich, dass er sich auf der Bühne ohnehin bereits wohl fühlte. Das merkt man auch beim "Kaspar Hauser", schon in der Probe. Sabata, ein Mordskerl, kein anämisches Jüngelchen, tigert auf der kleinen Bühne herum, wirkt wie ein spielender, großer Junge, nicht wie ein ernsthafter Vierzigjähriger. Er liebt das Stück, für ihn die "traurigste Geschichte, die je erzählt wurde". Und er liebt es, wie die Deutschen mit Oper umgehen: "Die Leute gehen ins Theater, um Realität zu verstehen. Das ist wunderschön, das brauchen wir in Europa." In Spanien sei Oper in erster Linie ein gesellschaftliches Ereignis. Deshalb: Als nächstes kommt bei ihm Berlin. "Poppea" an der Staatsoper.

© SZ vom 22.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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