Nachrichten aus dem Netz:Digitale Selbstüberschätzung

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Wer mehr Informationen bekommt, meint auch, mehr zu wissen - eine fatale Entwicklung.

Von Michael Moorstedt

David Mikkelson ist müde, so müde. Seit mehr als zwei Jahrzehnten betreibt der Amerikaner die Fact-Checking-Website snopes.com. Früher hat ihm seine Arbeit noch Spaß gemacht. Da ging es freilich auch nur darum, ein paar mehr oder weniger harmlose urbane Legenden und moderne Mythen auf ihren Wahrheitsgehalt abzuklopfen. UFO-Sichtungen, Serienkiller, den ein oder anderen freilaufenden Yeti, solche Sachen eben.

Heute, so schildert er in einem großen Porträt in der britischen Tageszeitung The Guardian , habe sich seine Arbeit gewandelt: "Die Schleusen haben sich geöffnet, und das Wasser steigt schneller als man es abpumpen kann", sagt er, auf all die Lügen, Gerüchte und verdrehten Fakten angesprochen, die im Internet kursieren. Heute könne ein beliebiger Facebook-Post innerhalb von 20 Minuten zur Schlagzeile auf Nachrichten-Websites werden.

"Post-Truth-Era" nennt der Guardian unsere Zeit, der New Yorker spricht von einer Welt "nach den Fakten". Jeder denkt, dass seine Wahrnehmung der Dinge, seine Version von Google und Facebook die letztgültige ist. Evidenz ist anrüchig geworden. Das führt dazu, dass Donald Trump die Befindlichkeiten seiner Klientel als Wahrheiten verkauft, es führt zu gefälschten Fotos von Amokläufern, die in den Mainstream-Medien kursieren, zum Brexit und zum Lügenpresse-Gebrüll in Dresden.

Weil man scheinbar mehr Informationen denn je bekommt, meint man auch, mehr zu wissen

Es sind Phänomene wie diese, die der amerikanische Philosoph Michael P. Lynch in seinem neuen Buch "The Internet Of Us: Knowing More And Understanding Less in the Age of Big Data" anspricht. Anders als andere Bedenkenträger wie Nicholas Carr oder der sehr viel weniger informierte Manfred Spitzer unterstellt Lynch dem Internet aber nicht automatisch, für den Gehirnschwund seiner Nutzer verantwortlich zu sein.

Sein Buch ist eher ein epistemologisches Werk. Wissen, insbesondere wenn es auf dem Weg digitaler Interfaces herangeschafft wird, bedeute nicht automatisch Verständnis. All das Teilen von Artikeln, all die Retweets und Gefällt-mir-Angaben, also alle jene Tätigkeiten, mit denen man die meiste Zeit im Netz beschäftigt ist, seien viel zu passiv, als dass durch sie noch Wissen und Einsicht entstehen könne. "Google-Knowing" nennt Lynch das.

Die von sozialen Netzwerken und personalisierten Suchmaschinen prall aufgepumpten Filterblasen der Netznutzer seien längst von theoretischen Konstrukten zu realen Problemen mutiert. Was die Kritiker der Filterblasen vor etwa fünf Jahren unterschätzt hätten, sei, dass sich das Problem noch verstärkt, je mehr Menschen in ähnlich gestalteten Blasen leben.

Das Internet führe so zu einer "erkenntnistheoretischen Selbstüberschätzung". Weil den Nutzern scheinbar mehr Informationen als je zuvor zur Verfügung stehen, meinten sie auch, mehr zu wissen, als sie tatsächlich wüssten. Das ist zwar kein Phänomen, dass es nur im Internet gibt, wird aber durch seine Mechanismen exponentiell verstärkt. Eine Lösung hat Lynch leider nicht parat. Die großen IT-Konzerne könnten zum Beispiel durch eine Neukonfigurierung ihrer Algorithmen für mehr Objektivität sorgen. Denken aber müssten die Menschen immer noch selbst.

© SZ vom 08.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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