Nachrichten aus dem Netz:Creepy Utopia

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Der sehr kritische und gar nicht so leise Nicholas Carr bringt ein neues Buch heraus: "Utopia is Creepy". Er teilt gegen Twitter aus, gegen Wikipedia und gegen die User: "Das Verlangen nach Privatsphäre ist stark, die Eitelkeit ist stärker."

Von Michael Moorstedt

Nicholas Carr ist kein dummer Mann. Er ist auch nicht leise. Da passt es, dass er sein diesen Dienstag erscheinendes neues Buch "Utopia Is Creepy" (W. W. Norton Publishers) mit dem Untertitel "und weitere Provokationen" versehen hat. Carr ist der Posterboy der Technikkritik. Sein Essay "Is Google Making Us Stupid?" aus dem Jahr 2008 wird auch heute noch in jedem halbwegs anspruchsvollem fortschrittsskeptischen Medium rauf und runter zitiert. Seitdem hat er zwei weitere Bücher verfasst, einen beachtlichen Fankreis aufgebaut und eine Menge nachfolgender Autoren - Meckel, Spitzer - mehr als nur ein bisschen inspiriert.

Mit dem Buch "Utopia is Creepy", das eine Mischung aus Best-of des Carr-eigenen Blogs "Rough Type" und neuen Essays ist, beweist er, dass er durchaus in der Lage ist, noch eine Schippe draufzulegen. Mit beinahe jugendlicher Verve keilt Carr gegen Twitter ("das Medium des Narziss"), Wikipedia ("ein Mischmasch dubioser Halbwahrheiten") und selbstverständlich die Nutzer selbst ("Das Verlangen nach Privatsphäre ist stark, die Eitelkeit ist stärker.").

Was diesen Autor antreibt, muss eine persönliche Enttäuschung vom Silicon Valley sein

Doch woher kommt die Wut auf das Jetzt? Wie Carr vorab in einem auf dem Debattenportal Aeon veröffentlichten Essay offenbart, ist es keine schnöde Maschinenstürmerei, die ihn antreibt, sondern schon eher eine Art persönliche Enttäuschung von den Versprechungen des Silicon Valley. Carr ärgert der "irrationale Überschwang" von Gestalten wie Gates, Musk, Zuckerberg, für die Digitalisierung und Virtualisierung das Allheilmittel gegen all die Unzulänglichkeiten der physischen Welt darstellen. Doch deren neue Welten, Technikparadiese und IT-Utopien sind nicht eingetreten. Sie konstituierten sich aus einem Schöpfungsmythos des frühen Internet, als dessen soziale und wirtschaftliche Strukturen noch unausgereift waren und vor allem die Nutzerbasis nicht die Gesamtbevölkerung widerspiegelte.

Carr erzählt von seinen ganz persönlichen Rites de Passage. Als Teenager das erste Mal vor einem tonnenschweren Computer sitzend, das erste Mal mit Floppy-Disks hantierend, das erste Mal einen Webbrowser startend und bereits damals wie von den Möglichkeiten betäubt, die in der digitalen Sphäre geboten werden. Hier zeigt sich, was Carr eigentlich ist. Kein gehässiger Analog-Apologet, sondern eher ein verbitterter Idealist: Was er von der Technik wolle, sei keine neue Welt. Sondern nur Werkzeuge, um die bereits bestehende zu erleben.

Jenen, die denken wie er, empfiehlt er die innere Emigration. Für den Rest von uns sieht Carr wenig Hoffnung. Das Smartphone habe die Menschen zu Medienmaschinen mutiert.

© SZ vom 05.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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