Musical:Die revolutionäre Energie von damals

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Viel Stoff für zweieinhalb Stunden: In Potsdam gibt es ein Musical über den "Ton Steine Scherben"-Sänger Rio Reiser.

Von Jan Kedves

Als täuschend echte Coverband könnte man problemlos durch die Lande touren: Moritz von Treuenfels (Mitte) und die Ton-Steine-Scherben-Imitate. (Foto: HL Boehme)

Kann das denn wahr sein? Er ist auferstanden! Rio! Er singt wieder, nach 21 Jahren Totenstille und seiner Umbettung vom nordfriesischen Fresenhagen auf den Sankt-Matthäus-Friedhof in Schöneberg. Hier, im Hans-Otto-Theater in Potsdam, steht er auf der Bühne: dasselbe feste Röhren in der Stimme, dasselbe reingepresste Vibratodrama, dieselbe Lässigkeit in den Beinen, die auch in denselben speckigen Rio-Lederjeans stecken. Nur im Gesicht, da sieht er vielleicht ein bisschen zu gesund aus? Erst geht ein leises, dann ein lautes Raunen durch den Saal, Sitznachbarn blicken sich ungläubig an. Was erleben wir hier gerade? Jubelschreie, brennende Feuerzeuge: Riiiooo!

Wann die Revolution kommt? In zehn Jahren, glaubte man damals in den Siebzigerjahren

Ja, es wirkt tatsächlich so, als habe Moritz von Treuenfels, der Hauptdarsteller in der neuen Inszenierung des Schauspielmusicals "Rio Reiser. König von Deutschland", 28 Jahre lang - so alt ist er - nichts anderes getan, als sich auf seine Rolle als Rio Reiser vorzubereiten. Jetzt, im Herbst 2017, ist er fertig, und das Timing scheint perfekt: Deutschland sucht eine Regierung, die Braunen machen es sich bequem im Bundestag, die Gentrifizierung macht nicht nur in Kreuzberg all das wieder kaputt, was der von "Macht kaputt, was euch kaputt macht" einst befeuerte Häuserkampf erreicht hat. Rio war - Mythos oder Wahrheit - gegen das alles, er stand immer für das Richtige und Linke. Und bot sich schon lange vor der Wiedervereinigung ironisch unironisch als "Kanzler, Kaiser, König oder Königin" für Deutschland an, in seinem Hit, der dem Stück von Heiner Kondschak seinen Titel gibt.

Die erst in Langhaarperücken und Schlaghosen, später in Leder-Rocker-Outfits gekleidete Band auf der Bühne spielt womöglich besser, als die echten Ton Steine Scherben jemals gespielt haben. Moritz von Treuenfels hüpft und wippt und schmachtet und brüllt und knutscht fast genauso sensationell wie der echte Rio. Als täuschend echte Coverband könnte man problemlos durch die Lande touren. Aber es muss ja das Schauspielmusical sein. Und hier gibt es dann doch Probleme. Denn es ist ja der reine Wahnsinn zu denken, dass man die komplette Geschichte der Scherben und der Solokarriere von Rio Reiser - den Häuserkampf, Benno Ohnesorg, das Haschrebellentum, die schwule Emanzipation, die Interims-Bandmanagerin Claudia Roth, den Erfolg, die Verzweiflung, den Tod, das alles und noch viel mehr - chronologisch und jeweils unterbrochen von Musiknummern in zweieinhalb Stunden hineinpacken könnte.

Da schrumpfen jedenfalls komplexe Entwicklungen zu zwei Sätzen zusammen, und es bleibt keine Zeit, um zwischendurch vielleicht auch mal genauer auf etwas zu fokussieren. Zum Beispiel darauf, wie tragisch und trist das vielleicht auch war, dass aus der programmatischen Ablehnung jeglicher Ästhetik bei den Scherben ("Unsere Ästhetik ist die politische Effektivität") bei Rio solo irgendwann überästhetisierter Schlagerkitsch wurde. Oder dass die Wut im Alk und in den sentimentalen Synthieflächen ersoff. Wollte Regisseur Frank Leo Schröder dem Publikum alle Schlüsse selbst überlassen, oder musste er sich halt sklavisch ans Skript halten?

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Zumindest hätte er einiges an Zeit sparen können, wenn er einige der völlig überflüssigen Guck-mal-was-ich-hier-mache-Dialoge weggelassen hätte. Zum Beispiel: Rio und sein neuer Manager George Glueck (Florian Schmidtke) konferieren darüber, dass der verschuldete Rio dringend Kohle braucht und gerade ein Angebot einer Plattenfirma für ein neues Album vorliegt. Statt einfach aufzustehen, zum Telefon zu gehen und die Nummer zu wählen, sagt der Manager, bevor er all dies auf der Bühne bestens sichtbar tut, zu Rio: "Du, warte mal, ich rufe da kurz mal an." Wo jetzt, bei der Plattenfirma? Für so etwas geht man eigentlich nicht ins Theater, sondern schaut schlechte Fernsehserien.

Wichtiger ist aber vielleicht die Frage, was Rio Reiser dem Publikum heute bedeutet. Der Altersdurchschnitt in Potsdam liegt bei etwa 55, Rio wäre heute 67. Einer der größten Lacher geht durch den Saal, als innerhalb der Fresenhagen-Kommune, noch in den Siebzigern, gemutmaßt wird, dass das mit der Revolution noch ein wenig dauern könne, zehn Jahre vielleicht? "Maximal fünfzehn", meint Rio, "aber das sagen nur ganz große Pessimisten". Ha-ha-ha-ha-ha!

Ja, damals hatte man sich das irgendwie anders vorgestellt mit der Zukunft, vor allem: schneller. Aber jetzt sitzt man hier ziemlich bequem, in dieser architektonisch extravaganten Miniversion der Oper von Sydney direkt am Tiefen See in Potsdam. Bedeutet das Lachen, dass von der revolutionären Energie von damals noch etwas übrig ist? Oder, dass man selbst mal so naiv war? Die Frage wird schön weggesungen, der neue Rio Reiser singt ja wie gesagt wirklich sehr beeindruckend. Und dann stirbt er. Und dann jubelt das Publikum so lange, bis er noch zwei Zugaben gibt. Und dann ist es vorbei, bye-bye.

© SZ vom 27.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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