Missbrauch in Internaten:Morgens früh um sechs ...

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Die Odenwaldschule feiert ihr hundertjähriges Bestehen, doch anstelle von Festreden steht die Trauerarbeit im Mittelpunkt: Die Opfer verschaffen sich Gehör - mit drastischen Worten.

Tanjev Schultz

Mit seinem Rauschebart sitzt Paul Geheeb im Kreise seiner Schüler. Hehre Worte spricht der Reformpädagoge und Kämpfer für die Koedukation, als er 1910 im idyllischen Tal von Oberhambach die Odenwaldschule eröffnet: "Wir stehen am Beginne eines großen Werkes." Geheeb schwärmt von einem Bund gleichgestimmter Menschen, von einer Lebensgemeinschaft, in der der eine sich von der Liebe des anderen getragen fühle. Paulus, wie ihn nicht nur seine Frau Edith liebevoll nennt, will eine "Musteranstalt" gründen, ein "pädagogisches Laboratorium". Und so geschieht es.

Pädagogisches Laboratorium: Die Odenwaldschule musste ihr Jubiläum an diesem Wochenende in wenig feierlicher Stimmung begehen. (Foto: Foto: Getty)

Da glänzen die Augen

Ediths Vater Max Cassirer finanziert den ehrgeizigen Plan, ein ehemaliger Gasthof wird zum "Goethehaus" umgebaut - dem ersten Schulgebäude des privaten Internats, das schon bald auch international zum Inbegriff fortschrittlicher Pädagogik wird. Mädchen und Jungen werden gemeinsam unterrichtet; es gibt ein Kurssystem, das auf Freiwilligkeit und damit auf die Eigenmotivation der Schüler setzt, und eine Schulgemeinde, in der die Jugendlichen mitbestimmen und Verantwortung übernehmen können. Da glänzten die Augen aller Reformpädagogen vor Freude.

An diesem Wochenende musste die Odenwaldschule ihr Jubiläum in ganz anderer Stimmung begehen. Statt Festreden gab es Gedenkreden. Schulleiterin Margarita Kaufmann rang im Kurfürstensaal von Heppenheim mit den Tränen, als sie um Verzeihung bat für das, was jungen Menschen in der Schule angetan wurde. Mit Lehrern und Schülern sang sie ein Lied der Verzweifelten und Gequälten, den Gospel "Kumbaya, my Lord". Kaufmann leitet das Internat seit 2007; unermüdlich kämpft sie für die Aufklärung des lange verdeckten massenhaften sexuellen Missbrauchs, den Lehrer in den siebziger und achtziger Jahren begangen haben sollen.

Die finsteren Kapitel

Der Tübinger Bildungshistoriker Ulrich Herrmann spricht in seiner Rede von der schwierigen Gratwanderung des Internatslebens zwischen Nähe und Distanz. Geheeb begründete das bis heute praktizierte Familienprinzip: Die Schüler wohnen in kleinen, familienähnlichen Gruppen mit einem Lehrer unter einem Dach. Die pädagogische ebenso wie die natürliche Familie seien Orte des Schutzes, aber auch der Gefährdung, betonte Herrmann. Derzeit wird an der Odenwaldschule diskutiert, ob und wie das Familienprinzip erhalten werden soll. Nur wenige sind offenbar dafür, es komplett abzuschaffen.

Herrmann betonte, die "finsteren Kapitel" seien nicht die ganze Geschichte. Es habe glücklicherweise auch viele Jugendliche gegeben, für die das Internat ein Ort erfüllten Lebens und Strebens gewesen sei. Den sexuellen Missbrauch verurteilte Herrmann als "schlimmsten Verstoß gegen den Sokratischen Eid", den Hartmut von Hentig einst formulierte und in dem es heißt, ein Lehrer und Erzieher habe für die körperliche und seelische Unversehrtheit des Kindes einzustehen. Dass Hentigs Freund Gerold Becker, der die Odenwaldschule in den siebziger und Anfang der achtziger Jahre leitete, gegen diesen Eid verstoßen habe - "diesen Satz könnten wir eigentlich von Hartmut von Hentig erwarten", sagte Herrmann unter großem Beifall.

Nach massiven Vorwürfen hatte sich Becker für "Annäherungen" an seine Schüler entschuldigt, ohne zu Einzelheiten der strafrechtlich verjährten Vorwürfe gegen ihn Stellung zu nehmen. Vieles von dem, was Becker einst gesagt und geschrieben hat, erscheint nun in neuem Licht. Im Suhrkamp-Verlag publizierte Becker 1971 einen Aufsatz über das "Soziale Lernen als Problem der Schule". Darin schreibt er, die vordergründige Enttabuisierung stelle das Problem nur um so schärfer, "wie der einzelne die Sexualität in seine Person integriert". Das Individuum mit seiner eigenen Triebwelt zu "befreunden", bleibe eine der immer wieder zu lösenden Aufgaben.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Schulgründer Paul Geheeb auf frühe Missbrauchsvorwürfe im Umfeld seiner Schule reagierte.

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Becker fährt fort: Was das kleine Kind lerne, sollte nicht grundsätzlich dem widersprechen, was es als Erwachsener lernen werde. Das Lernziel zu erreichen, dass man die "eigene Sexualität bejahen und genießen" kann, werde erschwert, "wenn das kleine Kind in einer Atmosphäre der Leibfeindlichkeit oder auch nur der Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen oder fremden Körper aufwächst". Anschließend geht Becker auf die Odenwaldschule ein. Dort gebe es Sexualkunde nicht als eigenes Fach, aber "kleinere informelle Gesprächsgruppen mit Jüngeren". Eine Erfahrung sei, dass für die 10- bis 14-Jährigen "die biologische Information nicht entfernt so wichtig ist, wie die Möglichkeit, die eigenen Ängste und Beglückungen als sagbar und verstehbar zu erleben."

Der Becker, der findet Jungens lecker

Bei einer zum Schuljubiläum in Heppenheim eröffneten Ausstellung haben Absolventen ihre Erlebnisse jetzt in Kinderreime gekleidet: "Im Odenwald, da bleibt kein Hoden kalt." Als Teil einer Kunst-Installation singen sie vom Band: "Morgens früh um sechs, gibt es erst mal Sex. Morgens früh um sieben, wird's noch mal getrieben. ( . . .) Übergriff um elf, geht dann bis um zwölf." Schon in Schülertagen, so berichtet bei einer Podiumsdiskussion Thomas Bockelmann, der heute Intendant am Theater in Kassel ist, sei gesungen worden: "Der Be-ecker, der Be-ecker, der findet Jungens le-ecker."

Nun endlich finden die Opfer eine Sprache und das Gehör, um die drastischen Taten von damals auszudrücken und öffentlich zu machen, und sei es in ebenfalls drastischen Worten. Hatte nicht Gerold Becker damals auch das Lernziel ausgegeben, unbefangen zu reden in einer Sprache, die die Sexualität nicht "beschönigend hinwegeskamotiert"? Sexuelle Gewalt darf erst recht nicht beschönigt werden.

Um so schwerer fällt es jetzt, unbefangen auf die Geschichte der Schule zu blicken. Nach allem, was man weiß, war ihr Gründer Geheeb ein Eigenbrötler und ein Kauz, aber kein Missetäter. Doch konnten sich später die Täter nicht auch auf eine angebliche Inspiration durch Geheeb berufen, der mindestens die hessischen Bauern erschreckt haben muss, als er im "Lichtkleid", also nackt, auf der Wiese seine Gymnastik ausführte?

Erotische Bindung an den Knaben

Und mit Missbrauch waren auch das Ehepaar Geheeb und seine Zeitgenossen schon konfrontiert. Bevor sie die Odenwaldschule gründeten, arbeiteten die Geheebs in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf. Deren Leiter Gustav Wyneken wurde 1920 wegen sexueller Beziehungen zu Schülern angeklagt, Wyneken reagierte mit der erschreckenden Schrift "Eros" (1921), in der er die Knabenliebe verteidigte. Leider fehle der bürgerlichen Öffentlichkeit das Verständnis für die erotische Bindung eines Mannes an Knaben - für dieses "heilige Gut der Menschheit".

Geheeb hatte sich freilich früh mit Wyneken überworfen. In seinem Antrag zur Gründung der Odenwaldschule rechtfertigte er außerdem die Koedukation als Maßnahme gegen die "schwüle Atmosphäre", die in Internaten sonst vorherrsche und die dazu führe, dass "die auch bei den gesündesten Kindern öfters auftretenden homosexuellen Neigungen zu habitueller Homosexualität zu werden drohen". Aus heutiger Sicht muss man also sagen: Wyneken war ein unverbesserlicher Päderast, und Geheeb, zumindest in diesem Text, nicht sehr tolerant gegenüber Schwulen. Auch das gehört zur Geschichte der Odenwaldschule.

Traumatische Seiten, und wunderschöne

Nun müssen ihre Lehrer, Schüler und Absolventen aber zugleich nach vorne blicken, wollen sie ihr pädagogisches Laboratorium nicht schon bald zusperren. Etwa 300 ehemalige und aktuelle Schüler und Lehrer drängten sich zum Jubiläum in die Theaterhalle des Internats, um über den Missbrauch und über die Frage zu diskutieren, wie es nun weitergeht. Allen war anzumerken, dass sie die Schule retten und bewahren wollen. Quintus von Tiedemann, Schüler des Internats Anfang der siebziger Jahre, sprach von "traumatischen", aber auch "wunderschönen" Seiten der Schulzeit. Die Schriftstellerin Amelie Fried sagte, die Schule müsse ihre Daseinsberechtigung unter Beweis stellen. Dazu gehört nicht nur ein Sicherungssystem gegen sexuellen Missbrauch, sondern auch ein unverwechselbares pädagogisches Programm.

Wie das konkret aussehen soll, wird in der debattenfreudigen Odenwaldschule noch zu klären sein. Paul Geheeb hatte es einst leichter. Sein Antrag bei den Behörden zur Errichtung der Schule war nach heutigen Maßstäben sehr vage. Mit so einem Text, sagte Ulrich Herrmann in seiner Gedenkrede, würde ihn das Ministerium heute für einen Hochstapler oder Spinner halten.

© SZ vom 19.4.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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