"Beren und Lúthien":Warum es J. R. R. Tolkien seinen Lesern so schwer macht

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J. R. R. Tolkien hat seinen Stoff ungezählte Male auf verschiedene Weise in Angriff genommen, in Prosa, Notizen, epischen Gedichten (Foto: ASSOCIATED PRESS)

Fast ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod erscheint aus Tolkiens Nachlass die Liebesgeschichte "Beren und Lúthien". Doch die Erzählung offenbart ein unlösbares Problem des Autors.

Von Burkhard Müller

Wer seinen Stephen King liebt, dessen Lesehunger wird zuverlässig jedes Jahr mit einem neuen dicken Roman gestillt. Was aber macht, wer J. R. R. Tolkien verehrt? Tolkien ist fast ein halbes Jahrhundert tot, seine große Tetralogie vom Herrn der Ringe einschließlich des Kleinen Hobbit abgeschlossen und nicht erweiterbar. Dazu gibt es für besonders treue Gefolgsleute noch das "Silmarillion", das die ganze Geschichte jener Welt erzählt, in der die Hobbits und der Ring nur einen späten Spezialfall darstellen. Aber dann?

Dass auch dann der Zustrom an Lektüre nicht versiegt, hat sich Christopher Tolkien zur Lebensaufgabe gemacht, der Sohn; er hat darüber selbst inzwischen das 93. Lebensjahr erreicht. Es ist noch nicht allzu lang her, seit er aus dem Nachlass ein unabgeschlossenes Epos des Vaters über König Artus herausgegeben hat; nun folgt die Geschichte von Beren und Lúthien.

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Diese Edition gestaltet sich ausgesprochen schwierig. Denn zum einen hat J. R. R. Tolkien den Stoff ungezählte Male auf verschiedene Weise in Angriff genommen, in Prosa, Notizen, epischen Gedichten; keine Version stimmt mit der anderen völlig überein, und keine erzählt die Geschichte ganz. Zum anderen hat sie eine abgeschlossene Fassung dann eben doch gefunden; sie ist eingegangen ins "Silmarillion", und dem Sohn bleibt nichts übrig, als dieses Ganze zu filetieren und Passagen herauszulösen, die er für seinen eingeschränkten Zweck verwenden kann. Immer wieder schaltet sich der Herausgeber mit Kommentaren ein, die den Status des jeweiligen Texts erläutern und von den Umständen sprechen, die Tolkiens bedachtsame und doch chaotische Zettelwirtschaft dem Sichtenden bereitet.

Es handelt sich hier um ein philologisches, nicht um ein belletristisches Werk

Es geht (dies stellt den unveränderlichen Kern dar) um die Liebe eines ungleichen Paars, der Elbin Lúthien und des Menschen Beren. Beren belauscht Lúthien eines Tages zufällig beim Tanzen, verfällt rettungslos ihrem Charme, gewinnt ihre Gunst, stößt aber auf den Widerstand ihres königlichen Vaters. Dieser stellt ihm eine offensichtlich unmögliche Aufgabe: Nur dann soll er die Tochter erhalten, wenn es ihm gelingt, aus der eisernen Krone des Tyrannen Morgoth einen der drei Silmarils herauszubrechen, Edelsteine, in die das Urlicht der Schöpfung eingeschlossen ist. Beren muss, so der Wortlaut, mit eigener Hand das Kleinod packen. Beren gelingt das Unwahrscheinliche; aber dann beißt ein monströser Wolf ihm die Hand ab, die den Edelstein umschlossen hält. Vors Antlitz des Vaters zurückgekehrt, erklärt Beren, er habe die Bedingung des eigenhändigen Besitzes erfüllt - nur stehe ihm seine Hand leider nicht zur Verfügung, da sie sich im Magen besagten Wolfs befinde. Der Vater, in mythischer Buchstäblichkeit an sein Wort gefesselt, muss ihm die Tochter zähneknirschend überlassen.

Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute? Das entspräche nicht Tolkiens tragischer Weltsicht. Lúthien ist unsterblich, Beren, der von nun an der Einhändige heißt, nicht. Um ihrer Liebe willen opfert sie ihre Unsterblichkeit. Das wäre eigentlich ein wunderbarer Schluss. Doch es handelt sich eben nicht um ein belletristisches, sondern um ein philologisches Buch. Die Gewissenhaftigkeit des Sohnes hat keine Wahl als das Flick- und Stückwerk. Darunter aber verbirgt sich ein tieferes Problem des Vaters, ein unlösbares Formproblem. Von ihm legt die Vielzahl seiner herumtastenden Versuche unfreiwilliges Zeugnis ab.

Tolkien ist der Ahnherr jenes inzwischen zu unvorstellbarer Breite gediehenen Genres, das den Namen der Fantasy trägt. Alle diese Autoren denken sich Stoffe aus, die in einem nicht näher recherchierten Frühmittelalter spielen, und treten diese unbedenklich breit gemäß den Konventionen der zeitgenössischen Romanliteratur. Tolkien hingegen fühlte sich seinem Stoff mit Ernst verpflichtet. Er glaubte an die tiefe Wahrheit, und vielleicht sogar an die Wirklichkeit dessen, was er sagte. Damit aber geriet er in einen Widerstreit zwischen dem Geist seiner Erzählung, der in den Mythen und Sagen der Völkerwanderungszeit wurzelt, und der Notwendigkeit, sich einem Publikum des 20. Jahrhunderts verständlich zu machen.

Tolkien ging immer von der Sprache aus. Sie ist ihm das Organ seiner Sehnsucht

Tolkien ging (was seine Nachfolger niemals tun) von der Sprache aus. Sie ist ihm Organ seiner Sehnsucht, reines Gefäß jenes Unwiederbringlichen, das nie stattgefunden hat. Er hatte eine Professur für Altenglisch inne, lernte Altgälisch und Altfinnisch hinzu und ersann schließlich das Altelbische. Bloß, wer sollte so etwas lesen? Unter dem Druck der Lektoren ging er den Kompromiss seines Hauptwerks ein, ein Kompromiss, der von ungeheurem Erfolg gekrönt war, der ihn aber gequält haben muss: eine Gegenwartssprache mit einem gerüttelt Maß an stachligem Altertum darin, sodass das Werk sich einem weiten Leserkreis öffnete und doch die Anmutung des "Es war einmal" behielt. Insbesondere die Unzahl der Eigennamen sorgte dafür, dass die Geschwindigkeit der Lektüre sank und sich ein holdes Verweilen einstellte.

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Diesen Kompromiss hat Tolkien in seinen anderen, zunächst nicht publizierten Texten aufgekündigt; er strebte darin eine Sprachgestalt an, die sich dichter am Mittelalter hielt, vor allem in der radikalen Knappheit des Ausdrucks. Die literarischen Formen des Mittelalters waren eher kurz gewesen; doch da es erhebliche Zeit in Anspruch nahm, wenn einer vorlas oder vorsang, während die anderen zuhörten, hatte keiner die Empfindung, dass etwas fehlte. Unter den Bedingungen der Moderne - der stillen Lektüre, der nüchtern-komplexen Syntax - kann solche Kürze nicht mehr die gleiche Wirkung tun. Es hört sich bei Tolkien so an: "Das war ein großer Kummer für Beren, der diesen Ort nicht verlassen mochte, weil er hoffte, dieses schöne Elbenmädchen noch einmal tanzen zu sehen, und auf der Suche nach Tinúviel (= Lúthien) durchstreifte er die wilden Wälder Tag für Tag." Vom Hauptsatz hängt ein Relativsatz ab, von diesem ein Kausalsatz, von dem wiederum ein Infinitiv der Absicht, es folgt ein Präpositionalausdruck und ein zweites Hauptsatzprädikat. Sehen, fühlen wir bei solcher Prosa unmittelbar den Schmerz und die Klage? Schwerlich.

Also dann: das epische Lied, der Lay, paargereimte vierhebige Jamben. Hier kommen nun die Übersetzer, Hans-Ulrich Möhring und Helmut W. Pesch, unter erheblichen Druck, da sie diese Form im Deutschen genau so beibehalten wollen. Unter dieser Voraussetzung muss man, was sie zustandebringen, unübertrefflich nennen. "Tinúviel sprach mit schrillem Klang, / der durch das tiefe Schweigen drang: / ,Billig ist's, was mich hergebracht. / Von Thûs habe aufgemacht / ich mich, von Taur-na-Fuins Schatten, / um dir hier Meldung zu erstatten.'"

Operation gelungen, Patient tot, möchte man sagen. Die einander dicht folgenden Reime ziehen alle Energie des Textes auf sich, so sehr, dass man kaum noch mitkriegt, worum es in den Versen eigentlich geht. Hinzu kommt, dass diese Form im Deutschen völlig andere Assoziationen weckt als im Englischen. Wilhelm Busch klingt hier für unsere Ohren an, Eugen Roth, die Büttenrede, eine Tradition der schmunzelnden Virtuosität, die dem Tolkien'schen Ernst ins Gesicht schlägt. Wäre es nicht klüger gewesen, zugunsten des Sinns auf den Reim zu verzichten und sich allein mit dem leicht erfüllbaren Metrum zu begnügen?

Die unglückliche Form verdeckt die starken Emotionen, die sich für den Autor mit diesem Stoff verbanden. Beren und Lúthien, das sind er und seine Frau Edith. Edith hatte ihn als ganz jungen Mann durch ihren Tanz und Gesang in Bann geschlagen, er hatte, um sie zu erringen, den starken Widerstand seines Vormunds überwinden müssen, mit ihr verbrachte er mehr als sechzig Jahre. Auf den gemeinsamen Grabstein setzte er unter den Namen seiner Frau "Lúthien" und sorgte dafür, dass unter seinem eigenen (er überlebte sie nur um zwei Jahre) der Name "Beren" stand. So fand er am Ende doch die knappe, gültige Textgestalt, um die er sein ganzes Leben gerungen hatte.

J. R. R. Tolkien: Beren und Lúthien. Hg. v. Christopher Tolkien. Mit Illustrationen von Alan Lee. Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring und Helmut W. Pesch. Klett-Cotta 2017, 304 S.

© SZ vom 28.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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