Kulturreport:Abenteuer Menschwerdung

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Der Berliner Filmemacher Axel Ranisch inszeniert Valtinonis Familienoper "Pinocchio" als pralles Roadmovie. Die Neuproduktion des Kinder-und Jugendchors der Bayerischen Staatsoper hat am kommenden Freitag Premiere in der Reithalle

Von Barbara Hordych

Am Anfang stand eine Art Gretchenfrage. "Die Dramaturgie der Bayerischen Staatsoper wollte wissen, ob ich Angst vor Kindern hätte", sagt der Berliner Schauspieler und Regisseur Axel Ranisch. "Nein, wieso?" habe er da geantwortet, erinnert er sich und lacht. Natürlich ahnte er da noch nicht, dass er einige Monate später in München ein Stück mit 110 Mitwirkenden inszenieren würde - den Kindern und Jugendlichen des Chors der Bayerischen Staatsoper. Gemeinsam erarbeiten sie eine Neuproduktion von Pierangelo Valtinonis Familienoper "Pinocchio": Darin begegnet man den bekannten Szenen und Figuren aus Carlo Collodis Buch, das von den Abenteuern des kleinen Draufgängers und Lügners mit der langen Nase und dem großen Herzen erzählt: dem armen Holzschnitzer Geppetto, der guten Fee, der gewitzten Grille, den beiden Betrügern Kater und Fuchs, aber auch der Schnecke, Glühwürmchen, Hai- und Thunfischen. Pinocchios wundersame Erlebnisse wurden bereits unzählige Male verfilmt oder auf der Theaterbühne erzählt - nun erleben sie in der Reithalle ihre Premiere.

"Ich habe ein kindliches Gemüt", sagt der als mitreißendes, manisch arbeitendes Multitalent geltende Ranisch, in dessen Filmen oft rundliche Männer als tragikomische Figuren um ihr Glück ringen. "Dicke Mädchen" oder "Ich fühl mich Disco" entwickelten sich zu regelrechten Festivalhits. Wer ihn erlebt, wie er jetzt auf der Probenbühne im Nationaltheater eine im Schlaraffenland spielende Szene verfolgt, in der in Esel verwandelte Kinder herumspringen, glaubt ihm aufs Wort. "Wow, das habt ihr super gemacht!" Er klatscht in die Hände, dabei selbst ein wenig hüpfend.

Einige Requisiten müssen bei der auf vier Stunden angesetzten Durchlaufprobe ausreichen, um die Szenen anzudeuten: Provisorische Papiermützen etwa visualisieren, welche Kinder in der Schlaraffenland-Szene bereits zu Eseln verzaubert wurden. Als Pinocchio und sein Widerpart Lucignolo in Streit geraten und miteinander rangeln, rutschen ihnen die Eselsmützen von den Köpfen. Unfreiwillig. "Das wird sich noch ändern, für die Aufführung bekommen wir maßgeschneiderte Mützen, die dann genau auf unsere Perücken passen", sagt Nina Schumertl, eine der beiden Pinocchio-Darstellerinnen in einer Pause im an diesem Nachmittag wie leer gefegten Gang der Staatsoper.

Die 16-jährige Schülerin trägt einen orangefarbenen Overall, genau wie ihre alternative Besetzung, die 18-jährige Marianne Strauß. "Die beiden passten vom Umfang der Stimme her ideal - und besitzen eine musikalisch umfassende Intelligenz, können nicht nur singen, sondern auch schauspielen", sagt Stellario Fagone, der musikalische Leiter des Kinder-und Jugendchors. Und natürlich waren sie wie alle Mitwirkenden bereit, viel Zeit zu investieren. Die Faschings-, Oster- und Pfingstferien haben für die Proben herhalten müssen. "Aber ich wollte unbedingt dabei sein - auch, wenn ich gerade mein Abitur mache", sagt Marianne Strauß.

Viel Verständnis habe er für die Holzpuppe Pinocchio, die unbedingt ein Mensch werden wolle, aber zunächst "gar nicht weiß, was menschlich ist", erklärt Ranisch die für ihn nach wie vor aktuelle Geschichte. In seiner Naivität gehe Pinocchio eben mit offenen Armen auf alle Menschen zu und erlebe neue Emotionen. Er gehe den Stoff weniger intellektuell und nicht so verkopft an, sondern genieße es, "so viele bunte Welten" und witzige Tiercharaktere auf die Bühne bringen zu können, sagt Ranisch. An den abwechslungsreichen Schauplätzen des "Roadmovies", das Pinocchio ins Schlaraffenland, ins Puppentheater und sogar in einen Haifischmagen führe, "spürt man, dass Collodis Buch auf vielen einzelnen Kurzgeschichten basiert."

Aufgeregt sei er schon, räumt er dann freimütig ein. Erst an diesem Montag findet die erste Kostümprobe am zukünftigen Aufführungsort, der Reithalle, statt. "Film ist da halt was ganz anderes, einmal abgedreht, bleibt er immer derselbe, jedes Wort, jede Geste. Dagegen gleicht keine Bühnenaufführung der anderen", beschreibt Ranisch die Kluft zwischen beiden Kunstformen. Eine Kluft, die der bekennende Opernenthusiast 2013 mit seinem Film-Opern-Experiment "The Bear / La Voix Humaine" im Auftrag der Bayerischen Staatsoper schon einmal überbrückt hat, damals allerdings im Kino Theatiner Filmkunst, kaum hundert Meter Luftlinie vom Nationaltheater entfernt.

Bei der gegenwärtigen Durchlaufprobe sind die Bühnenbilder noch nicht zu sehen, genauso wenig wie die Notizen und Zeichnungen, die sich der Autor Carlo Collodi als "Nachtpförtner" in Ranischs Inszenierung macht und die in der Reithalle auf den Bühnenhintergrund projiziert werden sollen. Der Autor-Pförtner ist übrigens die einzige Figur, die Ranisch der Inszenierung hinzugefügt hat. "Er fungiert als Erzähler", erklärt der Regisseur. Ein Rang, den ihm die gute Fee allerdings mitunter streitig mache, amüsiert er sich. Bei Ranisch schwenkt sie statt eines Zauberstabs eine Toilettenbürste, als der zu einem Eisblock erstarrte Pinocchio vor ihrem Haus abgelegt wird - die Probe geht weiter.

Fachsimpelnd treten jetzt die beiden Doktoren Rabe und Eule zu dem vermeintlich Leblosen. Der sich plötzlich schluchzend aufsetzt. "Wenn der Tote weint - dann geht es ihm schon viel besser", verkündet scharfsichtig einer der Doktoren. Woraufhin einige Akteure zu kichern beginnen. Egal. Ein rascher Blick auf den Regisseur zeigt: Auch er schmunzelt. Doch dann klatscht er energisch in die Hände: "Kommt, die ganze Szene noch einmal!".

"Pinocchio", Premiere Freitag, 5. Juni, 18 Uhr, Reithalle, Heßstraße 132

© SZ vom 01.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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