Kulturpolitik:Kultur als Wirtschaftsgröße

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Frankreich ist traditionell stolz darauf, mit seiner Kulturindustrie auch Geld zu verdienen. Nun aber bemängeln Kritiker, dass es in den Künsten nur noch ums Geld gehe und nicht mehr um Ästhetik und Inhalte.

Von JOSEPH HANIMANN

Als sich vor rund dreißig Jahren die Kinonationen Deutschland und Italien aus der internationalen Filmproduktion zurückzogen, blieb Frankreich als einziges europäisches Land mit einer grenzüberschreitenden Produktionskapazität übrig. Es hatte vorgesorgt. Die Kulturindustrie war für den damaligen Kulturminister Jack Lang nicht unbedingt minderwertig, weil sie auch eine Industrie war. Um im Weltmarkt bestehen zu können, so lautete die Konsequenz, müssten neben den hochrangigen Autorenfilmen für ein Nischenpublikum auch ambitionierte Großproduktionen öffentlich gefördert werden. Mit ausgeklügelten Maßnahmen wurde dieses Prinzip im Film- wie im Musik- oder im Verlagsbereich politisch zielstrebig umgesetzt.

Deutschland hat mittlerweile viel gelernt und ist mit großen Produktionen wieder präsent auf dem Markt. Eines sollte es aber von Frankreich nicht übernehmen: die Tendenz, die Prioritäten zwischen wirtschaftlicher und kultureller Dimension umzukehren. Die Einsicht, dass Filme, Bücher, Musikstücke, Bilder auch ein Wirtschaftszweig sind, verleitet Politiker und Verwalter hier dazu, Kosten-Nutzen-Rechnung aufzumachen. Think-Tanks wie das von Filmproduzenten, Kulturmanagern und Medienunternehmern gegründete Forum d'Avignon suchen zwar zwischen Kultur und Wirtschaft zu differenzieren. Auch sie neigen in ihren Studien aber dazu, Filme, Romane, Chansons nur noch als Substrate von Bilanzen zu sehen. Der Kultursektor widerstehe der Wirtschaftskrise besser als die meisten anderen Sektoren, erklärte schon Sarkozys Kulturminister Frédéric Mitterrand 2009 stolz. Und bei der streikbedingten Annullierung der großen französischen Sommerfestivals sechs Jahre zuvor wurde vor allem beklagt, wie sehr darunter die Fremdenverkehrsbranche leide. Gegen diese Sichtweise melden sich heute kritische Stimmen zu Wort.

Können Werke des Dramatikers Molière die französischen Krankenkassen entlasten?

"L'urgence culturelle", kultureller Notstand, heißt ein gerade erschienenes Buch von Jérôme Clément, dem langjährigen Intendanten des Fernsehkanals Arte. Der Autor ruft dazu auf, aus lauter Euphorie über das Boomen der Wirtschaftskraft Kultur das Unberechenbare ihrer Substanz, die Botschaften der Werke nicht zu vergessen. Beim Lesen einer Studie über die Wirtschaftsleistung der Kultur in Frankreich - insgesamt 74 Milliarden Jahresumsatz, 3,2 Prozent des Bruttosozialprodukts, 670 000 Arbeitsplätze - habe er sich von einer Sendung mit dem Schauspieler Fabrice Luchini im Fernsehen ablenken lassen, schreibt er. Luchini ist der Mann, der es heute in Frankreich am besten versteht, mit großen Texten von La Fontaine, Molière, Céline das Publikum zu begeistern. Und wie viel kostet der? fragte sich Clément spontan. Ist er rentabel? Wird die Entlastung der französischen Krankenkasse dank seiner erheiternden Auftritten in den Bilanzen berücksichtigt?

Das französische Modell einer ambitionierten Kulturpolitik, das seit der Gründung eines Kulturministeriums 1959 mit André Malraux als erstem Inhaber von den linken wie den rechten Regierungen fortgesetzt wurde, steht nach Ansicht Cléments heute auf der Kippe. Anders als ihre Vorgänger sei für die beiden letzten Staatspräsidenten Sarkozy und Hollande Kultur kein Thema mehr. Die Anfänge dieser Entwicklung sieht der Autor in den letzten Jahren der Regierungszeit Chiracs vor 2007, als mit einem neuen Mäzenatengesetz der Rückzug des Staats wettgemacht werden sollte und mit dem Entschluss einer Louvre-Niederlassung in Abu Dhabi die Kultur zur Dienstmagd der Diplomatie herabgestuft wurde.

Bekannter als die französischen Kulturminister sind im Land mittlerweile die großen Industriekapitäne und Museumsgründer: Bernard Arnault und seine Fondation Louis Vuitton in Paris, François Pinault mit dem Palazzo Grassi in Venedig, Édouard Carmignac und sein neues Museum auf der Insel Porquerolles bei Toulon. Die Kultur wird zum Aushängeschild von Luxusmarken. Mehr als Victor Hugo, Voltaire, Foucault und Alain Robbe-Grillet exportiere Frankreich heute Waffen und Luxus, schimpft der Schriftsteller Tahar Ben Jelloun im Themenheft "Geopferte Kultur" der Wochenzeitschrift Le 1 und beklagt eine "skandalöse Geldverschwendung" auf den Gipfeltreffen der "Francophonie", der Organisation französisch sprechender Länder. Immerhin aber wird dort überhaupt noch politisch und nicht nur wirtschaftlich Kultur besprochen.

© SZ vom 21.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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