Konzert:Vorwärts in die Vergangenheit

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Ein Protestschrei, der zur Zeugenschaft aufruft: "Irreversible Entanglements" graben mit ihrem Sound in der afroamerikanischen Geschichte. (Foto: Kammerspiele)

Free Jazz mit "Irreversible Entanglements" in den Kammerspielen

Von Jürgen Moises, München

Es beginnt mit einem harten Trommelwirbel, der wie eine Maschinengewehrsalve klingt. Dann folgen ein paar Querfeuer rechts und links auf Toms, Becken und Hi-Hat, bevor nach einem abermaligen Wirbel auf der Snare eine Trompete und eine dunkel deklamierende, weibliche Stimme mit ihren Klagegesängen einsetzen. "Not only do we disappear ..." heißen dann die mehrfach wiederholten ersten Worte, die schließlich fortgeführt werden mit: "... we hang ourselves and come up with other ways to find ourselves murdered. / Since the Southern flag came down ain't nothing left but jails and burning churches / and all them cotton fields picked bare ...". Und schon sind wir mittendrin in der afroamerikanischen Geschichte, an der auch nach dem offiziellen Ende der Sklaverei noch immer sehr viel Blut klebt.

Und wir sind mittendrin im Debütalbum des US-Free-Jazz-Kollektivs Irreversible Entanglements, das an diesem Mittwoch in den Kammerspielen auftritt. Das Kollektiv wurde Anfang 2015 vom Saxofonisten Keir Neuringer, der Spoken-Word-Poetin und Aktivistin Camae Ayewa und dem Bassisten Luke Stewart gegründet, die sich damals gemeinsam bei einer Veranstaltung gegen Polizeigewalt stark machten. Anlass dafür war der Tod von Akai Gurley, der 2014 bei einem Einsatz der New Yorker Polizei erschossen wurde. Ein paar Monate später stießen dann noch der Trompeter Aquiles Navarro und der Schlagzeuger Tcheser Holmes zur Band. Das heißt, sie trafen sich mit den anderen Musikern im Seizure's Palace in Brooklyn, wo sie in einer mehrstündigen Session die vier Stücke "Chicago to Texas", "Fireworks", "Enough" und "Projects" aufnahmen.

Erschienen ist das Album im vergangenen September. Einen Monat zuvor konnte man Camae Ayewa bereits mit ihrem Soloprojekt Moor Mother in der Milla sehen. Auch dort nahm sie einen als Zuhörer auf eine dunkle Reise durch die afroamerikanische Geschichte, konfrontierte einen mit noch lange nicht verheilten Traumata. Nur transportierte die aus Philadelphia stammendende Musik-Poetin ihren Protest nicht mit den Mitteln des Free Jazz, sondern mit einer aufgekratzten, elektronischen Noise-Hip-Hop-Collage, die sie selbst als "Slave-ship Punk" bezeichnet. Ein wichtiges Vorbild für Moor Mother ist Sun Ra, der Godfather des Afrofuturismus, dessen musikalischer Einfluss bei den Irreversible Entanglements nun noch stärker hervortritt. Auch an Amiri Barakas Kollaborationen mit Sunny Murray und dem New York Art Quartet lässt die eindringliche Verbindung von Jazz und Wortpoesie denken.

Das Ergebnis ist ein 43 Minuten dauernder, ergreifender Protestschrei, der wie die Musik von Moor Mother zur Zeugenschaft aufruft. Oder wie es der Notwist-Sänger Markus Acher formuliert, der mit seinem Solo-Projekt Rayon im Vorprogramm auftritt: "Eine Sensation, die dem Jazz Stimme und Inhalt zurückgibt, den er so lange durch viel geschmäcklerisches, selbstverliebtes Regeln-einhalten verloren hatte." Acher ist ein großer Fan der Formation und ebenso von Moor Mother und hätte sie gerne auf dem jüngsten Alien-Disko-Festival als Gäste gehabt. Und er freut sich, wie er sagt, nun sehr darauf, dass er auf Einladung der Kammerspiele zusammen mit seinen Begleitern Sachiko Hara an Piano und Harmonium, Cico Beck an Elektronik und Percussion, Taiko Saito an Vibrafon und Glockenspiel und Anton Kaun an Objekten und Elektronik den Konzertabend eröffnen darf.

Gemeinsam werden sie vor allem Stücke des Rayon-Albums "A Beat Of Silence" spielen und damit experimentelle, sehr atmosphärische Instrumentalmusik, bei der, wie der Titel besagt, die Stille eine wichtige Funktion hat. Die musikalischen Einflüsse reichen bei Rayon von elektronischen Komponisten wie Edmund Finnis bis hin zur javanischen Gamelan-Musik, und sie fügen sich zusammen zu einem frei flottierenden Klangteppich, der einem als Zuhörer viel Raum lässt. Bevor dann das erste Trommelfeuer einsetzt und die Musik der Irreversible Entanglements die Stille und das Schweigen bricht.

"Die Zukunft kommt aus der Vergangenheit und lässt die Gegenwart vibrieren." So hat der britische Kulturwissenschaftler Kodwo Eshun in seinem Buch "Heller als die Sonne" die Ästhetik des Afrofuturismus beschrieben, die seit ein paar Jahren in Musik und Literatur neu auflebt. Diese Vergangenheit ist bei den Irreversible Entanglements eine sehr dunkle, die nicht nur vibriert, sondern einen als Zuhörer aufrüttelt und erschüttert.

Irreversible Entanglements & Rayon , Mittwoch, 4. April, 20 Uhr, Kammer 2 der Münchner Kammerspiele, Falckenbergstraße 1

© SZ vom 04.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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