Klassik:Produktive Unruhe

Lesezeit: 2 min

Das Boston Symphony Orchestra ist Garant für edelste Orchesterkultur. Auch, weil es daheim über den besten Konzertsaal der Welt verfügt. Jetzt gastierte die Truppe unter ihrem Chefdirigenten Andris Nelsons in München.

Von Harald Eggebrecht

Selten weiß man schon beim ersten Einsatz eines symphonischen Ensembles, dass man es mit einer echten Orchesterpersönlichkeit zu tun hat. Die ist in gewisser Weise so unverwechselbar im Klang und in der Herangehensweise wie ein Solist oder ein Sänger. Das Boston Symphony Orchestra, das jetzt in der vollen Münchner Philharmonie am Gasteig auftrat, ist nicht nur eines der traditionsreichsten Formationen in den USA, 1881 gegründet, sondern auch ein Garant für edelste Orchesterkultur.

Im Programmheft zum Abend gibt es ein Foto, dass die Bostoner in ihrem Stammhaus zeigt, der Boston Symphony Hall. Dieser Saal, 1900 nach dem maßstabsetzenden Vorbild des legendären, kriegszerstörten Leipziger Gewandhauses in etwas vergrößerter Form errichtet, ist bei aller Vorsicht vor Superlativen, der vielleicht beste Konzertraum der Welt. Nirgends klingt ein Orchester in seiner instrumentalen Vielfalt so ausgewogen, so reich und so farbenprächtig wie in diesem Wunderbau. Da knallt kein Blech, da leuchten die Holzbläser unangestrengt, wachsen die Streichergruppen zum riesigen, transparenten Kammermusikensemble zusammen. Hier Musik von Richard Strauss, Gustav Mahler oder Igor Strawinsky zu erleben, gehört zu den eindringlichsten Hörerfahrungen, die man sich vorstellen kann.

Genug der Schwärmerei, wenn es doch nur unser keineswegs so schlechter, aber eben verglichen mit dem Traumraum in Boston bloß durchschnittlicher Gasteig ist, der den amerikanischen Gästen angeboten werden kann. Doch deren Klangkultur, trainiert und über Generationen eingewöhnt in die feine akustische Welt jenes heimatlichen Saals, zeigte sich sofort und unbeirrt auch in München. Hinzu kommt die Logik der panoramaförmigen Aufstellung, wie sie zu Celibidaches Zeiten auch die hiesigen Philharmoniker pflegten.

Auch wenn ein Orchester immer einer gewissen Fluktuation seiner Mitglieder unterworfen ist aus Gründen der Verjüngung, so haben die Bostoner das Noble, Ausgereifte, den symphonischen Geist des Aufeinanderhörens und die technische Versiertheit weiterhin zu einem bewunderungswürdigen Ganzen versammelt. Dazu kommt die eindrucksvolle Liste von Dirigenten, die hier am Pult standen, von Karl Muck bis Pierre Monteux, von Serge Koussevitzky bis Seiji Ozawa.

Nun ist seit 2014 Andris Nelsons Chefdirigent, und er passt gut zur Vornehmheit und Klasse dieses herausragenden Ensembles. Denn seine physische Flexibilität, seine produktive Unruhe, seine Empfindlichkeit und seine Spontaneität für den musikalischen Prozess machten gleich zu Anfang aus den sieben Nummern aus Dmitri Schostakowitschs Bühnenmusik zu "Hamlet" von 1932 Charakterstücke voller Hintersinn und orchestraler Virtuosität. Selbst das Grelle ist hier nicht grob, sondern als Farbe hervorstechend, das Groteske nicht laut, sondern witzig - dank Bostoner Kultur und Nelsons' Beweglichkeit.

Das Boston Symphony Orchestra spielt fern jeder Routine

Dass das US-Orchester auch als Begleitensemble souverän agiert, zeigte sich beim Auftritt von Kristine Opolais mit einem Rachmaninow-Lied und Tatjanas Briefszene aus Peter Tschaikowskys "Eugen Onegin". Nelsons und seine Musiker boten der gefeierten Sopranistin einen differenzierten, sie nie bedrängenden, doch stets präsenten Klangraum. Claude Debussys "La Mer" ist eines der Wunderwerke symphonischer Musik. Dass aller Farbreichtum dieser Partitur sich besonders aus den Piano-Pianissimo-Regionen speist, dass ein Höchstmaß an hörendem Miteinander Voraussetzung dafür ist, damit eine Aufführung gelingt, das zeigten Nelsons und die Bostoner, die hellwach, intonationsgenau und fern jeder Routine spielten. Auch die Darstellung von Maurice Ravels "La Valse" bewies, dass dieser so lasziven wie unheimlichen Musik die Klasse des Orchesters in allen Sektionen entsprechen muss, soll die Einzigartigkeit des Werks unmissverständlich entstehen.

© SZ vom 10.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: