Klassik:Leipziger Perspektiven

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Andris Nelsons, 36, folgt in Leipzig Riccardo Chailly nach. (Foto: Marco Borggreve/AP)

Das Karussell für Chefdirigentenposten bei den großen Orchestern dreht sich rasant. Nächste Neubesetzung: Der 36-jährige Andris Nelsons wird als Nachfolger von Riccardo Chailly Gewandhauskapellmeister in Leipzig.

Von Harald Eggebrecht

Das Kandidatenkarussell für Chefdirigentenposten bei den großen Orchestern hat sich zuletzt kräftig gedreht: Bei den Berliner Philharmonikern folgt Kirill Petrenko, derzeit noch Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper, Simon Rattle nach, der dafür beim London Symphony antritt. In Amsterdam hat Daniele Gatti das Pult des Concertgebouw von Mariss Jansons übernommen. Und die Bamberger Symphoniker haben für den scheidenden Jonathan Nott den jungen, vielversprechenden Tschechen Jakub Hrůša gewählt.

In Leipzig nun - beim seit Felix Mendelssohn-Bartoldys Tagen ruhmbedeckten Gewandhausorchester - zieht sich 2016 Riccardo Chailly nach zehn Jahren zurück und widmet sich mehr seiner Chefposition an der Mailänder Scala und der Nachfolge des verstorbenen Claudio Abbado beim Lucerne Festival Orchestra. Für Chailly hat das Leipziger Orchester nun einen der begehrtesten Jungstars zum Gewandhauskapellmeister erkoren: Andris Nelsons aus Lettland, 36 Jahre alt, mit der Sopranistin Krīstine Opolais verheiratet. Er wurde auch in Berlin hoch gehandelt, leitete bis vor Kurzem das City of Birmingham Symphony Orchestra und ist derzeit Chef des ehrwürdigen Boston Symphony Orchestra, wo er gerade seinen Vertrag bis 2021/22 verlängert hat.

Nelsons gilt neben Gustavo Dudamel aus Venezuela, Pablo Heras-Casado aus Spanien, Yannick Nézet-Séguin aus Kanada oder Robin Ticciati aus Großbritannien als eines der überragenden Dirigiertalente unserer Tage. Er, der auch preisgekrönter Bass-Bariton ist, als Trompeter in Rigas Nationaloper spielte - dort wurde er schon mit 24 Chef - und sich dazu mit dem Cello beschäftigt hat, agiert bei aller Jugend bereits mit der Souveränität des erfahrenen Orchesterleiters. Es gibt längst kaum ein Orchester oder Opernhaus von Rang zwischen Berlin, New York, London, Wien oder Paris, wo er nicht mit Erfolg dirigiert hätte. 2010 leitete er in Bayreuth die Hans-Neuenfels-Inszenierung von "Lohengrin"; 2016 ist er für den "Parsifal" vorgesehen.

Nelsons gehört zu jenen Dirigenten, die mit glücklich langen Armen und sehr beweglichen Händen bis zur Pauke hinauf zu reichen scheinen. Besonders fällt seine Fähigkeit auf, große Phraseneinheiten mit schwebendem, weich modulierendem linken Arm zusammenfassen zu können. Bei allem Temperament und aller Explosivität wird Nelsons nie gewalttätig oder grob, sein Reaktionsvermögen und seine Geschmeidigkeit gestalten den tatsächlichen lebendigen Klang in diesem Moment. Und er weiß zu strukturieren, also Musik im Raum zu organisieren, statt sie nur gleichsam flächig ablaufen zu lassen.

Bei seiner Vorstellung in Leipzig am vergangenen Mittwoch gab es schon Zukunftsmusik. So soll alljährlich eine Komposition von den Bostonern und den Leipzigern in Auftrag gegeben und dann diesseits und jenseits des Atlantiks aufgeführt werden. Auch beim jeweiligen Repertoire soll es Austausch geben. Das klingt alles sehr gut, aber auch nach enormen Anforderungen an Nelsons. Das ist vielleicht die größte Gefahr, dass dieser vor frischer Musikalität bebende Dirigent einfach zu viel machen könnte. Doch mit seiner Wahl hat das Gewandhausorchester sich eine weitreichende, Maßstab setzende, ja, kühne Perspektive gegeben.

© SZ vom 11.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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