Kirschendiebe:Seitenweise Erinnerungen

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An diesem Samstag beginnt die Münchner Bücherschau junior. Die Autorin und Illustratorin Anke Bär stellt im Stadtmuseum ihr neues Werk vor: ein erzählendes Kinderbuch zur Nachkriegszeit

Von Barbara Hordych

Ausflüge in die Vergangenheit hat die Bremer Kulturwissenschaftlerin, Autorin und Illustratorin Anke Bär schon einige unternommen. In ihrem Debüt "Wilhelms Reise", das 2013 direkt für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurde, erzählte sie eine Auswanderergeschichte aus dem 19. Jahrhundert, in der sich ein Junge aus Bremerhaven auf den Weg nach Amerika macht. Für ihr zweites Buch "Endres, der Kaufmannssohn" begab sie sich sogar noch weiter zurück, ins Spätmittelalter, und schilderte das Leben in der Hansestadt Lübeck im Jahr 1398. Auf der Bücherschau junior wird sie nun ihr drittes Buch vorstellen. In dem beschäftigt sie sich erstmals mit einer Vergangenheit, zu der sie noch viele Zeitgenossen befragen konnte. Denn "Kirschendiebe oder als der Krieg vorbei war" spielt 1948, in der unmittelbaren Nachkriegszeit.

Die Schildkröt-Puppe ihrer Mutter ist mit dabei, wenn Anke Bär die Erlebnisse der elfjährigen Ich-Erzählerin Lotte um 1948 vorträgt. (Foto: Tristan Vankann)

Es ist eine Geschichte, die aus der Perspektive der elfjährigen Lotte erzählt wird. In 36 Kapiteln wird ein Lebensalltag in den Fokus gerückt, in dem der Zweite Weltkrieg seine Beschädigungen hinterlassen hat. Lotte verbrachte die Kriegsjahre in einer Familie mit zwei Müttern und ohne Vater. Als ihr Vater Soldat wurde, zog ihre Mutter mit den drei Kindern von Berlin in das Forsthaus irgendwo in Niedersachsen. In dem lebt ihre ältere Schwester mit zwei Kindern. Auch ohne Mann, denn der ist bereits im Krieg gefallen. Die beiden Frauen organisieren ihren Alltag mit wechselnden Zuständigkeiten: Während die eine "Kinderdienst" versieht, dafür sorgt, dass alle ordentlich angezogen sind und gefrühstückt haben und mit gepacktem Schulranzen rechtzeitig das Haus verlassen, versieht die andere den "Stalldienst". Sie melkt die Kuh, mistet aus, füttert die Ziegen und lässt die Hühner in den Garten.

Anke Bärs Mutter Birte Bär-Buchholz als Elfjährige mit Lederhose. Sie bzw. ihre Erlebnisse sind in vielerlei Hinsicht das Vorbild für die elfjährige Ich-Erzählerin Lotte. (Foto: privat)

Es ist eine Kindheit, in der autoritäre Erziehungsmethoden herrschen, die Lehrer die Jungs mit dem Rohrstock verprügeln. Oder die Lehrerin die Mädchen wieder nach Hause schickt, wenn sie ihr zu ungepflegt und "verkommen" aussehen. Andererseits herrscht große Freiheit, man spielt ohne Aufsicht draußen im Freien, im Baumhaus, am Fluss, probiert gefährliche Kletterspiele aus. Streng reglementiert sind auch die Geschlechterrollen. Lotte beispielsweise trägt ihre langen Zöpfe zu "Affenschaukeln" geflochten, die Mutter steckt ihre taillenlangen Haare jeden Morgen zu einem komplizierten "Tellerdutt" auf. Die pfiffige Lotte sucht sich auch andere Rollenbilder, beispielsweise ihre Patentante Elli, die in der Stadt wohnt, Medizin studiert, Hosen trägt und sogar Motorrad fährt. Sie ist dann diejenige, die Lotte ihren größten Herzenswunsch erfüllt, eine "Krachlederne". Der Kompromiss mit der Mutter lautet: Die darf nur in der Freizeit, nicht in der Schule getragen werden.

Zeichnung: Anke Bär. (Foto: Anke Bär, privat)

Ein Bild der elfjährigen Lotte in Lederhose und mit Affenschaukeln schmückt denn auch das Buchcover von "Kirschendiebe". Die historische Aufnahme zeigt Anke Bärs Mutter, die eigentlich Birte heißt, heute 74 Jahre alt ist und in vielem Vorbild für die Figur der Lotte ist. "Es gibt auch tatsächlich einen Brief, in dem meine Mutter sich bei ihrer Patentante für die Lederhose bedankt", sagt Anke Bär. Er ist im Anhang des Buchs zu finden, ebenso wie die Abbildungen von historischem Spielzeug aus der Nachkriegszeit. Einige dieser Objekte, wie die Schildkrötpuppe "Kläuschen" ihrer Mutter, wird sie auch mitbringen zu ihrer Lesung in München, die sie als "Generationenworkshop" anlegt. "Die Reaktionen auf mein neues Buch sind zwiespältig: Die Zeitgenossen stehen dem Buch häufig zunächst ablehnend gegenüber. Doch sobald sie sich mit konkreten Erinnerungen an ihre damalige Kindheit darauf einlassen, ist das Bedürfnis, zu erzählen immens", sagt Bär. Wie erklärt sie sich diese ambivalente Erfahrung? Die Zeitgenossen gehörten zur "gedeckelten Generation", sagt Bär. "Sie haben viele Dinge wahrgenommen und Traumata erlebt, gleichzeitig gingen die Erwachsenen aber darüber hinweg, vermittelten ihnen, darüber nicht zu reden".

Dazu gehört auch der Alkoholismus von Lottes Vater, der seelisch zerstört aus dem Krieg zurückkehrt. Ohne dass der Zustand des Vaters explizit benannt würde, bekommen die Kinder die Folgen mit: Beim Eingießen in die Tasse verschüttet er die Flüssigkeiten, in Wutausbrüchen zerstört er das ohnehin rare Geschirr im Forsthaus. "Das sind Erlebnisse, die der Bruder meiner Mutter zu dem Buch beigetragen hat, der als Junge besonders unter dem Alkoholismus meines Großvaters litt", sagt Bär. Ihr Onkel ist der vielfach ausgezeichnete Illustrator und Autor Quint Buchholz, den seine Nichte bei ihrem Buchprojekt zu Rate gezogen hat, in seinem Atelier in München aufsuchte. Selbstverständlich seien in das Buch aber auch fremde Erinnerungen eingeflossen. "Recherchiert habe ich überall: Beim Warten an der Bushaltestelle oder bei Zugfahrten habe ich ältere Damen und Herren angesprochen, gefragt, was sie als Kinder gespielt oder gegessen haben".

Kirschendiebe , Lesung & Workshop mit Anke Bär, Sa., 10. März, 15 Uhr, Stadtmuseum; 12. Mü. Bücherschau jr., Sa., 3., bis So., 11. März, Stadtmuseum

© SZ vom 02.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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