Jazz:Lyrisch widerborstig

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Die Frisur als Schutzhelm: Die Individualistin Carla Bley ist gerade 80 geworden und immer noch offen für Inspirationen. (Foto: Una Stade)

Die amerikanische Pianistin und Komponistin Carla Bley stellt in der Unterfahrt ihr aktuelles Album vor

Von Oliver Hochkeppel

Außer den großen Sängerinnen gibt es nur wenige Frauen, die einen Platz im Olymp der Jazzgötter sicher haben. Die Pianistin und Komponistin Carla Bley gehört definitiv dazu. 1936 im kalifornischen Oakland geboren und im vergangenen Monat 80 geworden, ist sie eine der in jeder Hinsicht auffälligsten Gestalten der Branche. Schon äußerlich ist die drahtige Bley eine Ikone, mit ihrem außergewöhnlich kräftigen Haupthaar, das meist absolut akkurat zu einer Art Schutzhelm geschnitten ist, wie um zu verbergen, was beim Spielen in ihr vorgeht. Denn immer gehörte eine subversive, ironische Note zu ihrem Schaffen, ein revolutionärer Ansatz, mit dem sie die stets reflektierte Tradition anging, mitunter sogar politische Botschaften wie beim von ihr arrangierten Album "Not In Our Name" von Charlie Hadens Liberation Music Orchestra im Jahr 2005, das gegen die Politik der Bush-Administration protestierte.

So zieht sich durch das opulente, auf Dutzenden eigener Alben dokumentierte und chamäleongleich alle formalen und besetzungstechnischen Möglichkeiten durchdeklinierende Œuvre Bleys doch stets eine unverwechselbare Widerborstigkeit. Eine unorthodoxe, individuelle Note, die sich die Autodidaktin bis heute bewahrt hat. Vom legendären, drei Jahre lang (!) produzierten, 1971 erschienenen "Escalator Over The Hill" (eine der wenigen Jazzopern und vielleicht neben "Porgy & Bess" die beste) über die frühen Kompositionen für ihren ersten Mann Paul Bley, die wilden Ritte mit dem zusammen mit ihrem zweiten Mann Michael Mantler geleiteten Jazz Composer's Orchestra und den preisgekrönten Bigband-Arbeiten der 2000er Jahre - es gibt nicht wenige Kritiker, die ihre Orchester-Kompositionen dem Rang nach gleich hinter Ellington einordnen - bis zu den zahlreichen Kollaborationen mit ihren dritten und aktuellen Ehemann, dem Bassisten Steve Swallow.

Mit ihm und dem Tenor- und Sopransaxofonisten Andy Sheppard pflegt Carla Bley seit bald 20 Jahren ein Trio, das nun wieder zugeschlagen hat: "Andando el Tiempo" heißt das gerade erschienene Album, das in gewisser Weise ein Gegenstück zum vor drei Jahren veröffentlichten "Trios" ist. Beschäftigte sich Bley auf "Trios" mit früheren Wegmarken und eigenen Standards, so präsentiert die suitenartige CD nun völlig neue Kompositionen. Hier wie da beweist sie sich als eine der großen Lyrikerinnen des zeitgenössischen Jazz. Ihre Kunst besteht darin, minimalistische Figuren durch vertrackte Skalen zu jagen, zu dehnen oder zu synkopieren, bis sich die Stimmung oder Impression einstellt. Carla Bley schreibt Programmmusik, die nie zu einer solchen erstarrt, die offen für Emotionen und die Einfälle ihrer Begleiter bleibt.

Alles Mögliche dient dabei ihrer Inspiration, alle möglichen Volksmusiken und Jazzstile hat sie ebenso bereits verarbeitet wie Bilder, historische Ereignisse oder alltägliche Begebenheiten. Das dreiteilige, fast halbstündige Titelstück von "Andando el Tiempo" bildet nach ihren eigenen Worten die Stadien eines Drogenentzugs ab und bewegt sich über alle emotionalen Berge und durch Täler - von Verzweiflung über Hoffnung bis zur schieren Freude. Auch im Trio klingt das fast immer orchestral, vielschichtig und ineinandergreifend. Staunenswert sind die rhythmischen Variationen, die fast unmerklichen Übergänge von Tango-Patterns zu Blues-Skalen oder offenen Bridges und die progressiven Akkordwechsel. Ebenso wie das weiche E-Bass-Spiel Steve Swallows und der lyrische Ton von Sheppards Saxofon. "Ich bin zu 99 Prozent Komponistin und zu einem Prozent Pianistin" hat Bley einmal gesagt. Es ist aber umso erfreulicher, sie in dieser Besetzung mehr denn je als Pianistin erleben zu dürfen. Natürlich gibt es virtuosere Musiker am Piano, aber Bleys Zauber entfaltet sich ja gerade in der Reduktion.

Dass dies bei "Andando el Tiempo" besonders eindrucksvoll klingt, mag auch daran liegen, dass die stets auf künstlerische wie wirtschaftliche Unabhängigkeit bedachte Bley das Album - wie zuvor schon "Trios" - nicht in Eigenregie und fürs eigene Watt-Label produziert, sondern diese Arbeit Manfred Eicher überlassen hat. Dass der ECM-Chef der vielleicht ausgefuchsteste Studioarbeiter ist, belegt auch diese in Lugano eingespielte Aufnahme, die in ihrer Intensität und mit ihrem fast spirituellen Atem anderen ECM-Trio-Einspielungen, etwa von Keith Jarrett, nicht nachsteht. Wer Live-Auftritte von Bley erlebt hat, kann versichern, dass diese Intensität auch bei der CD-Präsentation in der Unterfahrt erreicht wird.

Carla Bley Trio, Donnerstag, 14. Juli, 21 Uhr, Unterfahrt, Einsteinstraße 42, ☎ 448 27 94

© SZ vom 13.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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