Hitler-Attentäter Ewald von Kleist:Demütig an Stauffenbergs Seite

Ewald-Heinrich von Kleist war bereit, sich vor Hitler in die Luft zu sprengen - auch auf Anraten seines Vaters. Die Bundesrepublik prägte er als tatkräftig-pragmatischer Pazifist. Nun wird er neunzig Jahre alt. Dem Glück, damals davongekommen zu sein, begegnet er bis heute mit tiefer Demut.

Tobias Kniebe

Die größte Frage seiner Generation hatte er für sich selbst beantwortet, bevor er volljährig war. Konnte man rechtzeitig den Charakter des Hitler-Regimes erkennen und daraus die richtigen Konsequenzen ziehen? "Für mich war das furchtbar einfach", sagt Ewald-Heinrich von Kleist in seiner staubtrockenen, urpreußischen Bescheidenheit. "Ich hatte das große Glück, dass ich fabelhafte Eltern und Großeltern hatte, die vor allem eine moralische Basis besaßen."

Hitler mit Mussolini und Offizieren nach dem Attentat, 20. Juli 1944 | Hitler with Mussolini and officers after the assassination attempt, 20 July 1944

Nach dem gescheiterten Attentat am 20. Juli 1944: Adolf Hitler empfängt den italienischen Faschistenführer Benito Mussolini (li.) zum Meinungsaustausch.

(Foto: Sueddeutsche Zeitung Photo)

Ein von Kleist zu sein, das heißt: Uradel, Ahnen verbürgt bis 1289, sich einreihen in eine endlose Abfolge von Gelehrten, Bischöfen, Generälen, Feldmarschällen und ja, auch Dichtern wie Heinrich von Kleist. Der Vater, Ewald von Kleist-Schmenzin, ist Rittergutsbesitzer in Pommern, ein erzkonservativer Politiker, der in der Demokratie der Weimarer Republik das Verderben sieht - und für die Rückkehr des preußischen Königtums kämpft.

Dieser Vater ist aber auch einer der wenigen, die Hitlers "Mein Kampf" damals tatsächlich lesen - so wird er zum frühen und unerbittlichen Gegner der Nationalsozialisten, und Hitlers erster großer Mordaktion 1934 entgeht er nur durch Flucht. Sein Sohn Ewald-Heinrich, geboren am 10. Juli 1922, ist als Elfjähriger bereits Zeuge, wie das Gut in Pommern von der SS umstellt wird.

Zehn Jahre später, im Januar 1944, sitzt dann der junge Leutnant von Kleist, der beim Infanterieregiment 9 in Potsdam dient und dort einen verschworenen Kreis junger Hitlergegner kennengelernt hat, einem gewissen Claus Schenk Graf von Stauffenberg gegenüber - damals Stabschef des Allgemeinen Heeresamtes im Berliner Bendlerblock. Der Grund ihres Treffens, das ganz offen in den Diensträumen stattfindet, ist klar: Die Verschwörer suchen einen jungen Soldaten, der bereit wäre, sich bei einer Präsentation neugestalteter Uniformen zusammen mit Hitler in die Luft zu sprengen. Kleist und Stauffenberg reden mehrere Stunden über die Chancen eines Staatsstreichs gegen den Diktator. "Sehr viele Nazigegner, die ich kannte, hatten große Phantasie und Emotion, aber keinen Bezug zur Praxis", erinnert sich Kleist. "Stauffenberg dagegen war eine wirklich seltene, fast einmalige Kombination: glühendes Herz, eiskalter Verstand."

Mit der Pistole in der Hand im Zentrum des Geschehens

Vor seiner Entscheidung erbittet Kleist einen Tag Bedenkzeit - und die ewige Frage, was er da gefühlt habe, beantwortet er wieder mit einzigartiger Nonchalance: "Wissen Sie, wenn Sie jung sind, wollen Sie nicht so gerne sterben. Meine Überlegung war: Eltern lieben ihre Kinder, also frage ich mal meinen Vater, und der sagt dann sicher, das lassen wir mal. Ich habe gewissermaßen den anderen die Verantwortung zugeschoben. Man musste auch davon ausgehen, dass man selbst im Fall des Erfolgs eine Dolchstoßlegende schafft, dass das Attentat nutzlos sein würde."

Am nächsten Tag bringt ihn der D-Zug, allgemein nur der "Rasende Hinterpommern" genannt, von Berlin aufs Familiengut. Der Vater reagiert jedoch anders als erhofft - in einer Szene von beinahe alttestamentarischer Wucht. Er sieht den Sohn an, wendet dann den Blick ab, geht zum Fenster. Und innerhalb von Sekunden kommt die Antwort. "Ja, das musst du tun. Wer in so einem Moment versagt, wird nie wieder froh in seinem Leben."

Ewald-Heinrich von Kleist fährt nach Berlin zurück und sagt Stauffenberg zu - die geplante Uniformvorführung aber findet nie statt. Stattdessen riskiert er sein Leben dann am 20. Juli 1944, als Stauffenberg beschlossen hat, die Bombe gegen Hitler selbst zu zünden. Kleist, mit der Pistole in der Hand, ist ein unentbehrlicher Helfer im Bendlerblock, im innersten Zentrum des Geschehens.

Vom Glück, davongekommen zu sein

Es gehört zu seinen Wesenszügen, dass er nur dann von dieser Zeit erzählt, wenn man ihn ausdrücklich darum bittet. Das hängt mit dem Glück zusammen, davongekommen zu sein - anders als fast alle, die an diesem Tag mit ihm gekämpft haben. Diesem Glück begegnet er bis heute mit tiefer Demut. So groß ist seine Zurückhaltung, dass er beim Tod Philipp von Boeselagers 2008 schon vergessen zu sein schien. Da wurde Boeselager mit größter Fanfare als der "letzte Zeuge aus dem innersten Kreis der Widerstandskämpfer" begraben (Spiegel), wahlweise auch als "der letzte Held des deutschen Widerstands" (Welt) oder auch einfach als "Der Letzte" (FAZ).

Ewald-Heinrich von Kleist-Schmenzin

Der junge Leutnant Ewald-Heinrich von Kleist

(Foto: Gedenkstätte Deutscher Widerstand)

Ewald-Heinrich von Kleist las das bei bester Gesundheit in München. Er war nicht überrascht. Von der Kompetenz und vom Geschichtsbewusstsein der heutigen deutschen Medienwelt hält er ungefähr so viel wie sein Vater einst von der Weimarer Parlamentariern.

Wenn man ihm im Gespräch gegenübersitzt, muss man erkennen, dass da wirklich einmal ein Menschenschlag existiert hat, der fremd in unsere aufgeregte, großsprecherische, aufgeplusterte Gegenwart hineinragt. Deutlich wird das auch, wenn Kleist vom entscheidenden Moment des 20. Juli 1944 berichtet, jenem Punkt ohne Wiederkehr, den er aus nächster Nähe erlebt hat. Da verhaftet Stauffenberg im Bendlerblock seinen unmittelbaren Vorgesetzten, Generaloberst Fromm, um den Staatsstreich selbst in die Hand zu nehmen. Wer jetzt noch dabei ist, wird gewinnen müssen - oder sterben.

Kleist erinnert sich daran, wie äußerlich ruhig Stauffenberg dabei wirkte. Nur eines verriet seine Erregung: "Sein Brustkorb ging wie ein Blasebalg." Kleist selbst fühlt "den Druck der Geschichte auf Messers Schneide" - schwer wie eine Tonnenlast, auf jedem Zentimeter seiner Haut. Wenig später wird er als Kundschafter losgeschickt, am Brandenburger Tor sieht er die Männer der "Leibstandarte Adolf Hitler" tatsächlich entwaffnet herumstehen - "ein herrlicher Anblick, einer der Höhepunkte meines Lebens". Aber das Blatt wendet sich. Der von der Bombe in der Wolfsschanze nur leicht verwundete Hitler spricht von Ostpreußen aus im Radio, und bei seiner Rückkehr zum Bendlerblock wird Kleist bereits von der SS verhaftet.

Unbeirrbarer Humanismus

Nach fast sechs Monaten im Konzentrationslager Ravensbrück und verschiedenen Gefängnissen wird er dann überraschend freigelassen. Er hat konsequent den Ahnungslosen gespielt. Erst Jahre später erfährt er, dass er als Lockvogel dienen sollte, um die Gestapo zu einem noch flüchtigen Mitverschwörer zu führen, mit dem er befreundet war. Unehrenhaft aus der Wehrmacht ausgestoßen, besorgen ihm alte Kameraden dennoch Offiziers-Passierscheine, mit denen er bis zum Kriegsende in Italien untertauchen kann. Anders der Vater: Er macht aus seiner Verachtung für das Regime auch vor dem Volksgerichtshof, wo er als Mitverschwörer angeklagt ist, kein Hehl. Am 9. April 1945 wird er durch das Fallbeil hingerichtet.

Kleists neue Heimat im Nachkriegsdeutschland wird München, wo er eine Existenz als Verleger aufbaut und sich im Johanniterorden engagiert. Auch militärischen Fragen beschäftigen ihn weiter, als Vorstandsmitglied der "Gesellschaft für Wehrkunde". Im Jahr 1963 aber, unter dem noch frischen Eindruck der Kubakrise, fällt ihm eine Leerstelle auf: Es fehlt ein Forum, in dem die wachsende Vernichtungskraft der Atomwaffenarsenale öffentlich diskutiert, die Strategie des Westens frei und über Ländergrenzen hinweg debattiert werden kann. So lädt er Politiker, Militärs, Wissenschaftler und Publizisten zur "privaten Begegnung" nach München - die "Wehrkundetagung" ist geboren. Bald zieht sie Verteidigungsminister und Staatsoberhäupter an und wird zur internationalen Institution, die bis heute als "Münchner Sicherheitskonferenz" höchste Aufmerksamkeit genießt. Mit charmanter Direktheit, einem völligen Desinteresse an Selbstdarstellung und seinem trockenem Humor hält Kleist den illustren Kreis über 35 Jahre zusammen, 1998 moderiert er zum letzten Mal. Seit vier Jahren vergibt die Konferenz nun auch den Ewald-von-Kleist-Preis für besondere Verdienste um Frieden und Konfliktbewältigung.

Kleists Motivation folgt dabei demselben unbeirrbaren Humanismus, der ihn seinerzeit auch ins Attentat gegen Hitler einwilligen ließ: "Ein Mensch, auf den nie geschossen wurde, weiß nicht, wie gefährlich das Schießen ist. Damit stellt sich die Frage nach der Leichtfertigkeit, militärische Gewalt einzusetzen. Wir haben gesehen, wie es ist, wenn die Menschen sterben, für die man Verantwortung trägt."

Heute, an seinem neunzigsten Geburtstag, wird Ewald-Heinrich von Kleist die Zeitläufe wie immer mit Besorgnis betrachten. Er würde nicht darauf wetten, dass jene, die gegenwärtig die Welt lenken, das Wesentliche wirklich begriffen haben. Und falls dies wider Erwarten doch der Fall sein sollte - dann käme er jedenfalls nicht auf die Idee, dass es Persönlichkeiten wie er gewesen sind, die den entscheidenden Beitrag dazu geleistet haben.

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