Hannah Arendt:Vom Standpunkt des anderen aus

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Hannah Arendt: Sokrates. Apologie der Pluralität. Eingeleitet von Matthias Bormuth mit zwei Erinnerungen von Jerome Kohn. Aus dem Englischen von Joachim Kalka, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2016. 107 Seiten, 12 Euro. E-Book 9,99 Euro. (Foto: a)

Jeder hat seine Meinung, schreibt Hannah Arendt in ihrem Buch "Sokrates", aber keiner hat die Wahrheit. Die Verteidigung der Pluralität als Ursprung der Politik, das ist hochaktuell in Pegida-Zeiten.

Von Rainer Erlinger

Bräuchten wir sie nicht dringender denn je? Die Philosophen, die Platon zufolge im idealen Staat herrschen sollten. Also diejenigen, die sich durch Weisheit auszeichnen und die Wahrheit suchen und kennen. Gerade das scheint zunehmend wichtiger zu sein bei einer Politik und bei Wählern, die sich immer weniger für Fakten zu interessieren scheinen und immer mehr nur für ihre Meinungen.

Genau damit, mit dem Verhältnis von Wahrheit und Meinung und - allgemeiner - von Philosophie und Politik beschäftigte sich Hannah Arendt 1954 in einer Vorlesung, die nun unter dem Titel "Sokrates. Apologie der Pluralität" erstmals auf Deutsch erschienen ist. Was diese Vorlesung so interessant und vor allem aktuell so relevant macht, ist die große Bedeutung, die Arendt dabei - aufbauend auf Sokrates - der Meinung zumisst und sie gegen Platos Ansatz von der einen absoluten Wahrheit verteidigt.

Der zentrale Begriff der Vorlesung ist doxa, Meinung. Darunter verstand Sokrates den "Ausdruck dessen, was dokei moi, was ,mir scheint'". Das bedeute, so Arendt, dass doxa nicht "subjektive Fantasterei und Willkür" war, auch nichts "Absolutes und Allgemeingültiges": "Die Annahme war, dass sich die Welt jedem Menschen verschieden eröffnet, je nach seiner Stellung in ihr, und dass die ,Gleichheit' der Welt, ihre Gemeinsamkeit (...), ihre Objektivität (...) sich daraus ergibt, dass sich ein und dieselbe Welt jedem anders eröffnet".

Diese Auffassung ist nun in erster Linie zutiefst human, insofern als sie auf den Menschen abstellt. Es kommt hinzu, dass mit der Aufwertung der doxa die Meinung, das, was dem Menschen zu sein scheint, nicht als minderwertiger Gegensatz zum Wissen oder zur Wahrheit abgestempelt, sondern als mit diesem individuellen Menschen verbunden anerkannt wird.

Niemand kann, sagt Arendt, aus sich selbst die Wahrheit wissen, die seine Meinung birgt

Doch Arendt geht, aufbauend auf Sokrates, noch weiter. Die Anerkennung der doxa eröffnet einen philosophischen Gegenentwurf zur Absolutheit der Wahrheit bei Platon: "Eine absolute Wahrheit, welche für alle Menschen gleich wäre und insofern keinerlei Beziehung zur Individualität hätte, kann es für uns Sterbliche nicht geben. Für uns ist es entscheidend, die doxa wahrhaftig werden zu lassen, in jeder doxa Wahrheit zu erkennen. Hier bedeutet das sokratische ,Ich weiß, dass ich nichts weiß' nichts anderes als: Ich weiß, dass ich nicht für jedermann die Wahrheit habe. In seiner stets ambivalenten Manier hatte das Orakel von Delphi Sokrates die Ehre erwiesen, ihn den weisesten aller Menschen zu nennen, weil er die Grenzen der Wahrheit für Sterbliche akzeptiert hatte, ihre Begrenztheit im dokein, dem Scheinen, und weil er gleichzeitig entdeckt hatte, dass doxa weder private Illusion noch willkürliche Verzerrung war, sondern im Gegenteil genau das, worin sich die Wahrheit unweigerlich zeigte."

Dies alles muss dann aber genauso für das gelten, was man selbst für die Wahrheit hält. "Und so, wie niemand vorab die doxa des anderen kennen kann, kann auch niemand aus sich selbst und ohne weitere Anstrengungen die Wahrheit wissen, die seine eigene Meinung birgt." Das ist neben der Erkenntnis, dass die Meinungen der anderen ihre Berechtigung haben, der zweite entscheidende Beitrag zur Pluralität, die über die klassische Toleranz hinausgeht. Man muss sich und den anderen eingestehen, dass die eigene Überzeugung auch nur Meinung, doxa, ist. Wie aber soll man vorgehen, wenn man die Wahrheit nicht sicher feststellen kann?

Das Problem heute ist, dass alle sich im Besitz der absoluten Wahrheit wähnen

An dieser Stelle geht Arendt, gemäß dem Originaltitel der Vorlesung "Philosophy and Politics", über in die politische Theorie: "Diese Art von Verständnis - die Fähigkeit, die Dinge vom Standpunkt des anderen aus zu sehen, wie wir es gern ein wenig trivial formulieren - ist die politische Einsicht par excellence. Wenn wir die wichtigste Tugend eines Staatsmannes auf traditionelle Weise definieren wollten, könnten wir sagen: Sie besteht darin, die größtmögliche Zahl und die verschiedensten Arten von Wirklichkeiten (...) zu verstehen - zu verstehen, wie diese Wirklichkeiten sich den jeweiligen doxai, den Meinungen der Bürger, eröffnen, und gleichzeitig zwischen den Bürgern mit ihren Meinungen kommunikativ so zu vermitteln, dass die Gemeinsamkeit der Welt erkennbar wird."

Das ist die hochaktuelle Erkenntnis: Der derzeitigen politischen Fakten- und Glaubwürdigkeitskrise ist politisch nicht durch eine Herrschaft der Philosophen und der Wahrheit im Sinne Platons beizukommen. Es ist ja umgekehrt gerade das Problem, dass sich jetzt schon alle im Besitz der absoluten Wahrheit wähnen - oder es aus politischem Kalkül behaupten. Wenn aber alle von ihrer Wahrheit überzeugt sind, sind Dialog oder Gespräch kaum mehr möglich. Das vermag auch die zunehmende Aggression im politischen Diskurs zu erklären. Was hier helfen kann - und das ist die wichtige Botschaft von Arendts Vorlesung -, ist einerseits sokratische Bescheidenheit, einzusehen, dass man selbst auch dem dokei moi, dem "wie mir scheint", unterworfen ist. Auch man selbst kann die Wirklichkeit nur aus der eigenen Stellung in der Welt heraus sehen. Andererseits ist es die Anerkennung des anderen und dessen doxa. Und drittens schließlich, für den Politiker, die Aufgabe, seine Politik nicht primär an seiner eigenen Überzeugung oder der seiner Wähler zu orientieren, sondern als "Staatsmann" zu versuchen zwischen den unterschiedlichen Wirklichkeiten und Meinungen der Bürger zu vermitteln und die Politik daran auszurichten. Die ethische Forderung der Vorlesung, die dem zugrunde liegt, aber ist zu erkennen, "dass trotz aller Unterschiede zwischen den Menschen und ihren Stellungen in der Welt - und insofern ihren doxai, ihren Meinungen - ,du und ich beide Menschen sind'".

© SZ vom 09.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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