Gerhard Richter triumphiert in London:Der Wichtigste unter den großen Zweiflern

Gerhard Richter rettete die Malerei ins 21. Jahrhundert. Eine große Schau in London gibt nun einen Werküberblick, bei der er als "einer der bedeutendsten Künstler überhaupt" gefeiert wird.

Catrin Lorch

Das Stadtbild war nicht geraten. Es zeigte Düsseldorf, die Königsallee. "Ich mochte es nicht, es war nicht großartig", erinnert sich Gerhard Richter heute, "da habe ich es mit Grau übermalt und es sah gut aus." Drei, vier kleinere Bilder habe er damals so behandelt, danach war er bereit, direkt mit dem stumpfen weichen Grau auf der Leinwand zu arbeiten. Für ihn ist die Geschichte gut ausgegangen - doch offenbart die Anekdote auch tiefe Skepsis: gegenüber Motiven, gegenüber Monochromie, gegenüber dem Malen überhaupt. Niemand scheint zweifelnder gegenüber seinem Metier als dieser Künstler, der als einer der wichtigsten Maler der Gegenwart gilt.

Es wird sein Unglück und sein Glück zugleich gewesen sein, dass er in einer Epoche geboren wurde, der Malerei fragwürdig erschien: sowohl im Osten, wo er im Jahr 1932 in Dresden zur Welt kam, als auch im Westen, wohin er im Jahr 1961 übersiedelte und wo die Weltsprache der Abstraktion in den sechziger Jahren wie Esperanto klang, geläufig, aber leer. Zudem hat Duchamp ja nicht nur der Malerei im Jahr 1912 mit dem "Akt, eine Treppe herabsteigend" offiziell einen Schlussauftritt gemalt, sondern der Skulptur auch - mit einem Urinoir - das Ready-made hingestellt.

Pop-Art, Fluxus, Video und Fotografie, das waren fortan die Künste der Zeit - und es passte, dass Gerhard Richter gemeinsam mit Sigmar Polke, der auch nicht von der Leinwand lassen mochte, erst einmal den kapitalistischen Realismus erfand und danach Anzeigen von faltbaren Wäschetrocknern abmalte, Automagazinseiten kopierte, Bilderstrecken aus dem Kulturführer. Mitte der sechziger Jahre hatte er seinen Stil entwickelt, einen leicht verschlierten Realismus in Farbe und Schwarzweiß (je nach Vorlage), der die Motive in eine unscharfe Sphäre entrückt.

Doch Richter genügt das nicht: Sein Umfeld, das ist die Konzeptkunst, Gilbert & George, Lawrence Weiner, Blinky Palermo. Es braucht eine deutliche Setzung. Das wird "Ema (Akt auf einer Treppe)" (1966). Das Gemälde zeigt die eigene Frau, wie sie nackt eine Treppe hinabsteigt, es gibt die Malerei noch, sagt das Bild gut ein halbes Jahrhundert nach Duchamp, genauso wie es Frauen gibt, die Treppen hinabsteigen. Und statt der Konkurrenz der Medienbilder das Feld zu überlassen, wird die Auseinandersetzung mit den kommerziellen Bildproduzenten sein bestes Argument: Er ist der Maler, der das Historienbild der Medienindustrie entreißt. Sein Zyklus "18. Oktober 1977" aus dem Jahr 1988 besteht aus 15 Leinwänden; nach Pressefotos gemalt zeigen sie die Festnahme Gudrun Ensslins, die Stammheimer Erhängten, ein Foto der jungen Ulrike Meinhof. Das Werk ist für die bundesrepublikanische Endzeit so epochal wie "Die Erschießung der Aufständischen" von Francisco de Goya für Spanien im frühen 19. Jahrhundert.

Er sei einer der bedeutendsten Künstler überhaupt, sagt Nicholas Serota, Direktor der Londoner Tate Gallery, der Gerhard Richter jetzt zum im kommenden Jahr anstehendem achtzigsten Geburtstag gemeinsam mit der Berliner Neuen Nationalgalerie und dem Centre Pompidou in Paris eine Werkschau ausrichtet. Der Titel der Ausstellung "Gerhard Richter: Panorama" signalisiert, dass man hier vom Gipfel eines Werkes aus auf ein überzeitliches Massiv schaut, man vermeidet einen Begriff wie Retrospektive, der ja eher so klingt, als klappe jemand einen Kalender zu. Außerdem blickt Gerhard Richter nicht nur auf zahlreiche Retrospektiven zurück, sondern kann auch in allen Aspekten seines Werks als durchleuchtet gelten - Übermalungen, Graphik, sein Atlas - die allumfassende Rezeption durch Museen und die jüngere Kunstgeschichte wirkt schon fast devot.

Das Werk, aufgeblättert wie eine Fibel

Die Ausstellung steht vor dem Problem, ein Werk, das dem Kunstpublikum als bedeutsam bekannt ist, international auch verständlich zu machen: Dass es hier nicht um Stil und Themen geht, sondern grundsätzlich um Bilder, um Geschichte, um das Weitermalen. Während im Katalog also die rotweiße Rückenansicht von der Richter-Tochter "Betty" aus dem Jahr 1988 der Infantin von Velázquez gegenübergestellt wird, ist die Präsentation im Ausstellungssaal fast übervorsichtig. Chronologisch sortiert mit kleinen Ausblicken - so didaktisch hat man Gerhard Richter tatsächlich noch nie gesehen. Die Tate Modern blättert das Werk auf wie eine Fibel - mit T wie "Tiger" und M wie "Tante Marianne" (1965). Das Doppelporträt, nach einem Foto gemalt, zeigt das junge Mädchen, das dem Eugenik-Programm der Nationalsozialisten zum Opfer fiel, mit einem Baby - Gerhard Richter selbst - auf dem Schoß. Was der Schau im ersten Saal eines der originellsten Selbstporträts eines Künstlers beschert.

Auch dort, wo die Bilder hermetisch wirken könnten, wie eben die grauen Bilder aus den Siebzigern, wurde originell gehängt. Grau in allen Variationen sozusagen, gespachtelt, gestrichen, geringelt oder wie einmassiert. Dagegen fängt die Nachbarschaft zu einer seitlich gekippten "Betty" von 1977 in warmen Rottönen oder einem Blumenstrauß in Fuchsia und Rosa manche grelle Abstraktion der späten siebziger Jahre wieder ein. Der Oktober-Zyklus darf allein hängen. Die nach dem Zufallsprinzip kombinierten Farbtafelbilder, Ausgangspunkt für das berühmte Fenster des Kölner Doms, sind eher zurückhaltend präsentiert, wie der zwanzig Meter lange "Strich (auf Rot)" von 1980. Gleichzeitig gibt es neue Arbeiten zu entdecken wie eine Glas-Skulptur, die den Betrachter so weich zurückspiegelt, als habe Richter ihn gemalt.

Unweit hängt "Hofkirche (Dresden)", das Doppelporträt mit dem Publizisten Benjamin Buchloh, seinem wichtigsten Begleiter. Im Gespräch mit Nicholas Serota weist Richter darauf hin, dass es Buchloh war, der in abstrakten Skizzen die brennenden Doppeltürme von 9/11 zu erkennen glaubte. "Mir war gar nicht aufgefallen, dass sie etwas mit diesem Thema zu tun hatten", sagt Richter. Erst danach, im Jahr 2005, habe er "September" gemalt, ein nicht sehr großes Format, in dem das Grauen als zartbrauner Kubus erscheint, um den ein heller Farbnebel liegt; bloß kein Sensationsbild - dafür eine kurze wichtige Notiz für die Kunstgeschichte: Hier hat der Kritiker das Bild vor dem Künstler gesehen.

Was an eine kleine Suite erinnert, die gleichfalls nur an die Öffentlichkeit gelangte, weil ein anderer sie als außergewöhnlich erkannte. Die "Elbe"-Serie brachte der Student Gerhard Richter mitten im Sozialistischen Realismus als fast vollkommene Abstraktion auf das Papier, als man ihm einen Tintenroller zum Ausprobieren gab. Ein Freund habe die auf das Jahr 1957 datierten Experimente verwahrt.

Tatsächlich spazieren über die Blätter auch ein paar Figürchen - doch scheint die Schlacht zwischen Abstraktion und Figuration mehr als vergangen. Im Gespräch bezweifelt Richter, dass es die perfekte Abstraktion überhaupt gebe, erinnerten ihn doch sogar Robert Rymans weiße Gemälde an Zahnpasta, Mehl oder weiße Farbe, was so beiläufig wie fundamental klingt.

Rückblickend scheint es das große Missverständnis des 20. Jahrhunderts zu sein, dass ein Bild begründet werden muss. Doch einer, Gerhard Richter, hat davon profitiert, hat sich abgesichert und nachgedacht, vielleicht nicht bevor er den Pinsel in die Hand nahm, aber sicher, bevor er etwas herausließ aus dem Atelier. Dabei, und auch das macht die reiche Ausstellung in der Tate Modern jetzt sichtbar, gibt es tatsächlich nur einen Grund, Farbe auf der Leinwand herumzuschieben, bis sie am richtigen Platz ist: dass es hinterher Menschen berührt.

Und Richter, als hätte sein Werk nie etwas anderes behauptet, malt im siebten Lebensjahrzehnt kleinformatige Abstraktionen wie "White" oder "Grey" (beide aus dem Jahr 2006), die frappierend an die Elbe-Serie erinnern: klein, hakelig, flach geschichtet. Da zeigt sich Gerhard Richter endlich in der stillen, feinen Tradition einer Malerei von Lyonel Feininger oder Hermann Glöckner, als ein zufriedener, gelöster, ein vorsichtiger Maler.

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