Gegenwartsliteratur:Laufmaschen der Zeit

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Dana Grigorcea. (Foto: Ayse Yavas)

Dana Grigorcea, 1979 in Bukarest geboren, lebt heute in der Schweiz. In ihrem zweiten Roman flaniert sie an den Abgründen der rumänischen Geschichte.

Von Christopher Schmidt

Victoria heißt die Ich-Erzählerin im zweiten Roman der in Rumänien geborenen und in der Schweiz lebenden Dana Grigorcea. Und siegreich ging auch die Autorin aus dem diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt hervor, wo sie mit einer Auskopplung aus ihrem Buch den 3sat-Preis gewann. Obwohl der Roman insgesamt nicht ganz hält, was der im Hinblick auf die Vortragssituation geschickt kompilierte Auszug versprochen hat, ist er an thematischer Relevanz, Erzählwitz und literarischer Durchtriebenheit den auf Performanz getrimmten "Germanisten-Pornos" (so Preisträgerin Nora Gomringer), die in Klagenfurt den Ton angaben, klar überlegen.

Wie die Autorin ist auch ihre Protagonistin Victoria Ende der Siebzigerjahre geboren und irgendwann nach der Wende in den Westen gegangen. Als Bank-Direktorin und also im Tross der kapitalistischen Siegermächte kehrt sie in das Bukarest der Gegenwart zurück, wo sie in der restituierten elterlichen Wohnung im Regierungsbezirk Cotroceni Quartier bezieht. Zu Beginn der Handlung wird ihre Bank, in der man selbst die Sammelbüchse für den Tierschutz aus Angst vor Dieben versteckt, von einem Rentner überfallen. Dass die Erzählerin dem alten Mann später ganz selbstverständlich immer wieder bei verschiedenen gesellschaftlichen Anlässen begegnet, ist hier Teil der satirisch aufgefassten postsozialistischen Normalität.

Als Michael Jackson "Hello" sagte, verabschiedeten sich die Hoffnungen nach der Wende

Victoria aber wird fürs Erste beurlaubt und hat nun viel Zeit, durch das Viertel zu streifen, in dem sie aufgewachsen ist, wobei sich Erlebtes mit Erinnertem vermischt, aber ebenso mit Erträumtem und nur Herbeifantasiertem. Denn der Boden von "Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit", so der Titel des Romans, ist nicht weniger rutschig als das von Lindenblüten verklebte Straßenpflaster. Dass Victoria sich von ihrem Verlobten gerne nicht in irgendeinem Auto, sondern in einem Aston Martin DB 5, einem veritablen James-Bond-Mobil, durch die Stadt kutschieren lässt, mag eine Anspielung auf ihre verborgenen Talente sein. Als Kind verhalf sie dank ihres phänomenalen Zahlengedächtnisses der Familie zu kostenlosen Busfahrten, indem sie die Ziffern auf den abgestempelten Tickets auswenig lernte. Victoria sei zur Securitate-Agentin geboren, stellt ihre Mutter fest.

In der Gegenwart aber ist sie als Agentin in eigener Sache im Einsatz. Auf der Suche nach der abgerissenen Verbindung zu ihrer Herkunft blickt sie auf ein Rumänien, in dem sich äußerlich alles, innerlich so gut wie nichts verändert hat. Anstelle des abgelösten kommunistischen Regimes teilen nun mafiöse Raubritter das Land untereinander auf. Der Alltag ist heute wie damals von unsentimentalem Durchwursteln mit spitzen Ellbogen bestimmt. Schon zu Zeiten Ceauşescus dämmerte das gehobene Cotroceni-Milieu, dem die Erzählerin entstammt, in einer eskapistischen Blase dahin und behauptete trotzig sein bourgeoises Selbstbild.

"Basse classe" lautete von jeher die stehende Redewendung, mit der die Mutter als unpassend empfundenen Umgang disqualifizierte, Ehrgeiz gilt hier als "zu proletarisch", und "die Kommunisten", das sind immer die anderen. Im Übrigen schwelgt man in Schlagerseligkeit und trifft sich zu nostalgischen Fernsehabenden - wie überhaupt die Atmosphäre des Romans an alte französische Filme mit Alain Delon oder Jean-Paul Belmondo gemahnt.

Dass Rumänien in einer Zeitschleife festhängt, ist eines der Leitmotive des Romans. Einerseits ist da von "flachen Hierarchien" und "Teambuilding" die Rede, und die Straßencafés, in denen die Ray-Ban-Sonnenbrillen protzig auf den Bistrotischen liegen, sind wie überall mit "Aperol Spritz" verseucht, andererseits ist es, ganz altmodisch, eine "Kaltmamsell", die das Mode-Getränk serviert. In einem Kapitel erinnert sich Victoria an den ausgestorbenen Beruf der "Remailleuse", die Laufmaschen in Seidenstrümpfen "repassierte", also ausbesserte. Die Laufmasche gehört zu einem ganzen Arsenal defizitärer, vor allem medialer Technik, in deren Unvollkommenheit sich die verzerrte Wahrnehmung Rumäniens auf seine Geschichte und ihre "Unpässlichkeiten" spiegelt.

Für die Mixtapes der ABBA-begeisterten kleinen Victoria beispielsweise existiert zwar - quasi als Sicherungskopie - eine CD, aber kein Gerät, um sie abzuspielen. Und einen Farbfernseher hat sich Rapineau, Freund der Familie und gar nicht so heimlicher Liebhaber der Mutter, selber gebastelt, indem er den Bildschirm mit bunten Folien beklebte. Dass dieser Rapineau später erschlagen wird, erwähnt Grigorcea nur beiläufig - und macht doch stets deutlich, welche Abgründe sich auftun unter den Boulevards, über die ihr Roman parliert und flaniert. In einer Szene von gespenstischer Komik verirren sich die Kinder, die gerade den Grafen von Monte Christo gelesen haben, in den Gemäuern des Gefängnisses Doftana, in dem einst die politischen Gefangenen inhaftiert waren. Es ist der Tag, an dem sie in Anwesenheit des Ehepaars Ceauşescu bei den Jungen Pionieren aufgenommen werden. Ein Mitschüler steckt in den schmiedeeisernen Handfesseln fest und wird nach vergeblichen Versuchen der Lehrerin, ihn mit Spucke und Gewalt zu befreien, einfach zurückgelassen.

Jahre später steht nicht mehr der Staatspräsident auf dem Balkon des Parlamentspalasts, sondern der per Hubschrauber eingeflogene Michael Jackson, und er trägt, als wäre er ein historischer Wiedergänger, die Uniform der königlichen Garde. Als er jedoch die wartende Menschenmenge, die ihn wie einem Erlöser zujubelt, begrüßt, verwechselt er die Städte und ruft "Hello, Budapest! I love you!" ins Mikro. Es ist der hochsymbolische Beginn der enttäuschten Hoffnungen nach der Wende.

Dana Grigorceas Technik der literarischen Überblendung von Fakten und Fiktionen wirkt immer dann überzeugend, wenn es ihr gelingt, die Selbstfiktionalisierung der rumänischen Gesellschaft zu entlarven. Problematisch ist jedoch, dass die Autorin sich das märchenhafte Fabulieren, das ihre Figuren so vollendet beherrschen, auch selbst zu eigen macht. Trotz eingestreuter Hinweise, die den unzuverlässigen Status des Erzählten hervorheben, reproduziert sie damit formal das, was sie inhaltlich kritisiert. Letztlich ist ihre narrative Strategie daher eher Teil des Problems als Teil der Lösung. Was man nach der Lektüre des Romans besser versteht, ist vor allem, weshalb man den Balkan nicht versteht. Das titelgebende Primärgefühl der Schuldlosigkeit, das die Erzählerin für sich in Anspruch nimmt, lässt sich bestenfalls als Ironie auffassen. Denn auch dieser feingewirkte Roman hat eine Laufmasche. Doch für Erinnerungslücken gibt es keine Remailleuse.

© SZ vom 18.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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