Friedenspreis 2010 für David Grossmann:Kriegszustand und Kinderzimmer

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David Grossman empfängt in der Paulskirche den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Joachim Gauck hält eine liebenswürdige Rede.

Franziska Augstein

David Grossman war in Frankfurt hochwillkommen. So zahlreich war das Publikum am Sonntag zur Paulskirche geströmt, dass viele Zuhörer der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels stehend beiwohnen mussten. Richard von Weizsäcker, Norbert Lammert, Frankfurts Oberbürgermeisterin Petra Roth und Hunderte andere zollten dem angesehenen Autor ihren Respekt. Sie applaudierten einem politisch denkenden Menschen, der sich für Verständigung mit den Palästinensern einsetzt. Sie bewunderten den Vater, dessen Sohn während seines Militärdienstes 2006 im zweiten Libanonkrieg getötet wurde und der es vermochte, seinen Kummer nicht in Hass umschlagen zu lassen.

Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen: Der israelische Schriftsteller David Grossman (links) umarmt am Sonntag in der Paulskirche in Frankfurt am Main seinen Laudator Joachim Gauck. (Foto: dpa)

Grossmans Dankesrede war einfach, liebenswürdig und von literarischer Raffinesse. "Die bedeutendsten Dinge in der Geschichte", sagte er, "haben sich nicht auf Schlachtfeldern ereignet, nicht in den Sälen der Paläste oder den Fluren der Parlamente, sondern in Küchen, in Kinder- und Schlafzimmern." Und nachdem er die Geschichte auf diese Weise handhabbar gemacht hatte, erklärte er anhand seiner eigenen Erfahrungen, warum die Literatur ein friedenstiftendes Medium ist oder zumindest sein kann: "Es liegt im Wesen des Krieges, dass er die Nuancen, die die Besonderheit eines Menschen ausmachen (...), auslöscht."

Die Literatur hingegen bringt sie zur Geltung. "Ich muss darauf bestehen, zumindest zu wissen, was passiert, welche Dinge in meinem Namen getan werden, an denen ich, so sehr ich sie auch ablehne, dennoch beteiligt bin. Ich muss diese Dinge sehen, um zu reagieren, um mir und anderen zu sagen, was ich ihnen gegenüber empfinde. Ich muss sie beim Namen nennen, mit meinen Worten, und darf mich nicht von den Wörtern und Formulierungen verführen lassen, die Regierung, Armee oder meine eigenen Ängste - oder auch mein Feind - mir diktieren wollen."

Joachim Gauck als Laudator

Zeit seines Lebens als Israeli in Israel, sagte Grossman, habe er "noch keinen Augenblick wirklichen Friedens erlebt". Der dauernde Kriegszustand kontaminiert die Sprache. Die Arbeit des Schriftstellers, Grossmans Arbeit besteht darin, mittels der Sprache und in der Sprache einen Raum zu schaffen, in dem die Menschen mehr sind als Repräsentanten und Spielfiguren politischer Kräfte - er sagt: "Literatur ist die völlige Hingabe an den Einzelnen, an sein Recht, Individuum zu sein."

Die Kraft der Literatur erfuhr der Autor am eigenen Leib: Nachdem sein Sohn Uri in einem Panzer durch eine Rakete getötet worden war, hat Grossman gleich nach Ende der traditionellen Woche der Trauer an seinem Roman Eine Frau flieht vor einer Nachricht weitergeschrieben. Die Heldin des Buches verlässt ihr Haus, weil sie die Idee nicht erträgt, Mitteilung vom Tod ihres Sohnes zu bekommen. Grossman hat sich der fürchterlichen Nachricht gestellt, indem er "das einmalige Wunder, das jeder Mensch" ist, wieder in sein Recht setzte. Der Tod des Sohnes, sagte er, habe ihn "ins Exil" verstoßen. Trauer macht einsam, und das Nahe wirkt fremd. Das Schreiben gab ihn der Welt zurück.

Dass Joachim Gauck zum Laudator bestellt wurde, dürfte mit David Grossman wenig und mit Gaucks Reputation alles zu tun haben. Gauck hat sich beim Abfassen seiner Rede erkennbar Arbeit gemacht und sich auch weitgehend zurückgenommen. Nur in einem Punkt konnte er das Zeigefingern nicht lassen. Die Heldin in Grossmans Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" sagt einmal, nur auf die USA und Großbritannien könne Israel bauen. Das fasste Joachim Gauck als persönliche Meinung des Autors auf - die musste dann doch korrigiert werden: Auf Deutschland sei auch Verlass, betonte er. In ihren traditionellen Grußworten zu Beginn der Veranstaltung dankte die Oberbürgermeisterin Petra Roth der Jury für ihre gute Entscheidung: So ein Lob hat Frau Roth bei dieser Gelegenheit nur ganz selten ausgesprochen.

© SZ vom 11.10.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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