Frankfurter Buchmesse 2010:Schlapphut bleibt Schlapphut

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Überläufer Werner Stiller enttarnte einst Markus Wolf, den legendären Spionagechef. Seine ersten Memoiren seien Desinformation gewesen, sagt er - und erzählt jetzt, wie es angeblich wirklich gewesen ist.

Hans Leyendecker

Vor achtzehn Jahren wurde der frühere ostdeutsche Agent und Überläufer Werner Stiller vom Spiegel gefragt, wann er zum ersten Mal mit dem Bundesnachrichtendienst (BND) Kontakt gehabt habe. "Das behalte ich für mich", sagte Stiller und fügte hinzu: "Ein Schlapphut nimmt seinen Schlapphut nie ab."

Wie es damals mit dem BND wirklich war, wie Stiller im Januar 1979 zu den Westdeutschen überlief und der Stasi die schwerste Niederlage im deutsch-deutschen Agentenkrieg zufügte, erzählt der heute 63 Jahre alte Stiller in seinem neuen Buch. (Foto: AP)

In dem fischigen Gewerbe, das von Legenden lebt und in dem Begriffe oft eine schillernde Vieldeutigkeit haben, bedeutet das Wort "nie" also nicht wie im allgemeinen Sprachgebrauch: zu keiner Zeit, um keinen Preis. Im Geheimdienstmilieu kommt es nur auf den richtigen Zeitpunkt und auf den richtigen Preis an.

Wie es damals mit dem BND wirklich war, wie Stiller im Januar 1979 zu den Westdeutschen überlief und der Stasi die schwerste Niederlage im deutsch-deutschen Agentenkrieg zufügte und warum er in der DDR zum Staatsfeind Nummer eins wurde, erzählt der heute 63 Jahre alte Stiller in seinem Buch "Der Agent: Mein Leben in drei Geheimdiensten". Mit Hilfe der Birthler-Behörde und dank der Recherche von Mitarbeitern des Berliner Stasimuseums standen ihm dabei rund 1800 Seiten Dokumente zur Verfügung.

Eigentlich gibt Spionagestoff viele Jahre nach Ende des Kalten Krieges kaum noch Bestseller her. Das Publikum übt Abstinenz, weil die damalige Paranoia und der damit verbundene Showdown der Sicherheitskräfte im Westen und im Osten mittlerweile selbst dem Fachpersonal fremd geworden sind. Stillers Buch ist dennoch lesenswert, weil sein Abgang damals echte Geheimdienstgeschichte schrieb und einigen in Ost-Berlin schlaflose Nächte bescherte.

Stasi-Chef Erich Mielke, ein fürchterlicher Kleinbürger, bekam einen Tobsuchtsanfall. Die Jagd nach dem Verräter Stiller, der intern die Decknamen "Schakal" und "Pirat" erhielt, dauerte viele Jahre und blieb erfolglos. In der DDR hätte ihm die Todesstrafe gedroht.

Bevor Stiller vor 31 Jahren in den Westen wechselte, galt das riesige Ministerium für Staatssicherheit (MfS), das nach eigener Definition Schwert und Schild der Partei war, auch im Weltmaßstab der Branche als ungewöhnlich erfolgreich. Die Ausspitzelung der Bundesrepublik durch Spione der Elitetruppe Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) war fast total. Überall hatte Ost-Berlin seine Agenten, es gab kaum eine Regierung, kaum eine Branche, die nicht ausgespäht wurde. Auch die westdeutschen Nachrichtendienste waren unterwandert und sogar im Kanzleramt oder im Allerheiligsten der Nato in Brüssel hatte Ost-Berlin seine Spione platziert. Normalerweise war das MfS, dessen Auslandsarm die HVA war, sogar über Ermittlungen der westdeutschen Spionageabwehr bestens im Bild. Den Krieg im Dunkeln, so schien es, hatte Ost-Berlin haushoch gewonnen.

Nachdem sich Stiller abgesetzt hatte, wurden aber in der Bundesrepublik Dutzende Spione der HVA festgenommen, und Ost-Berlin musste zahlreiche Agenten zurückrufen. Der Überläufer erkannte auf einem in Stockholm aufgenommenen Foto den legendären Leiter der HVA, Markus "Mischa" Wolf, der schätzungsweise 4200 Auslandsagenten dirigierte und bis dahin als Mann ohne Gesicht galt. Damit war Wolf enttarnt.

Der Apparat der HVA war nach Stillers Abgang zutiefst verunsichert. Wem konnte man noch vertrauen, und welcher Agent im Westen konnte sich noch sicher sein, nicht von einem weiteren Überläufer enttarnt zu werden?

Der Fall des Werner Stiller galt denn auch viele Jahre lang als einer der ganz großen Erfolge des BND im stillen Wettkampf der Dienste. In Stillers erstem Buch "Im Zentrum der Spionage", das 1986 erschien, hieß es noch, der westdeutsche Auslandsnachrichtendienst habe den Kontakt zu ihm hergestellt, und der frühere Oberleutnant habe jahrelang in der Truppe von Markus Wolf als Maulwurf gearbeitet. Alles erfunden, alles Desinformation! Der BND habe ihm bei dem ersten Werk die Feder geführt, beichtet Stiller jetzt: "Die westlichen Sicherheitsdienste hatten damals ein Interesse daran, das Ministerium für Staatssicherheit möglichst nachhaltig zu verunsichern, weshalb eine langjährige Doppelagententätigkeit vorgetäuscht wurde."

Die Jäger waren ihm schon auf den Fersen

Wahr sei hingegen, dass er vier Jahre lang vergeblich versucht habe, mit Pullach in Verbindung zu kommen. Zeitweise habe er sich gefragt, "ob ich es auf der anderen Seite wirklich mit Vollprofis zu tun habe". Nachdem er den Kontakt mit dem westdeutschen Auslandsnachrichtendienst geradezu erzwungen habe, sei "aus übergroßer Vorsicht" von den Pullachern "eine Dummheit nach der anderen" gemacht worden: Deckadressen im Westen, die er erhielt, waren nicht echt, sondern nur Nachsendeadressen, die nicht taugten. Kuriere zum Abholen wichtiger Unterlagen wurden nicht geschickt, die toten Briefkästen waren feucht und rochen streng, und als Versteck für Geheimdienstmaterial sei ihm ein Zug empfohlen worden, der auf dem Gebiet der DDR nicht gehalten habe.

Die vom BND für die Ausschleusung gelieferten Papiere seien als lausige Fälschungen leicht erkennbar gewesen. Er habe sich nur mit einem von ihm selbst gefälschten Dienstauftrag absetzen können. Die Jäger waren ihm da schon auf den Fersen, und nur weil die Stasi nicht über die bei hohem Schnee notwendigen Winterreifen verfügte, sei ihm die Flucht in den Westen noch gelungen. Alles in allem habe auf ihn der BND "wie ein umständlicher Beamtenapparat gewirkt". Die Leute von der CIA, die er später kennenlernte, hätten "bei weitem professioneller und zielstrebiger gearbeitet".

In dieser seltsamen Welt, die zwischen Größenwahn und Wirklichkeit irrlichtert, gibt aber auch der Ex-Agent Stiller ein paar Rätsel auf. So ist der Untertitel des Buches mit den drei Geheimdiensten nicht ganz korrekt. Gearbeitet hat er eigentlich nur für die HVA; für den BND und die CIA war er nach seinem Abgang aus Ost-Berlin eine sehr wichtige Quelle, die abgeschöpft werden konnte, mehr aber nicht.

Richtig erkennbar wird in dem Buch sein Motiv für den Verrat nicht. "Mit den Jahren war mir das System regelrecht zuwider geworden", schreibt Stiller zwar, aber es scheint auch eine ganze Menge Abenteuerlust im Spiel gewesen zu sein. Stiller, der in den achtziger Jahren ein Wirtschaftsstudium in den USA absolvierte, später als Investmentbanker bei Goldman Sachs und Lehman Brothers arbeitete und seit Mitte der neunziger Jahre nach eigener Darstellung als "Geschäftsmann und Privatinvestor in Budapest" lebt, war ein geldgieriger Zocker, ein Hasardeur, und sexwütig war er auch. Vor sieben Jahren rechnete seine 1971 geborene Tochter Edina Stiller in einem Buch über zurückgelassene Agentenkinder mit ihrem Vater ab: "Ja, er war ein klassischer Verräter, und ich glaube, dass mein Vater das Leid, das er dadurch für viele beschworen hat, bis heute nicht wirklich begriffen hat."

Das würde dem Genre entsprechen. In Graham Greenes Roman "Der menschliche Faktor" doziert der Chef des englischen Secret Service über das Gewerbe: "Wir alle spielen unsere Spiele - es ist wichtig, kein Spiel zu ernst zu nehmen, sonst verliert man es."

An der geheimen Front tummelten sich, früher zumindest, viele Egomanen und auch Abenteurer, die vor allem sich selbst ernst nahmen. "Inzwischen ist wieder eine neue Frau in mein Leben getreten", beginnt Stiller den Schlussabsatz seines Buches, und er kann es sich "gut vorstellen", einmal "auf einem anderen Kontinent zu leben. Das Abenteuer geht weiter".

Werner Stiller, Der Agent. Mein Leben in drei Geheimdiensten. Chr. Links Verlag, Berlin 2010. 258 Seiten, 19,90 Euro.

© SZ vom 05.10.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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