Filmfestspiele Cannes:Sehnsucht nach Emotionen

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Christophe Honorés schickt Ludivine Sagnier in eine ménage à trois.

Susan Vahabzadeh

Sarkos Gesicht blitzt einmal drohend an einer Hauswand auf in Christophe Honorés "Les chansons d'amour", da hat er, Monate im Voraus, die Stimmung vorweggenommen. Man hat nämlich den Eindruck, Cannes spiele in Frankreich gerade nur die zweite Geige, alles ist ein bisschen weniger wichtig, kleiner, unaufgeregter als sonst. Die Menschenmassen an der Croisette bleiben einstweilen übersichtlich, und an den Zeitungskiosken herrschen Sarkozy, die Berlinreise, der neue Premier, die Regierungsbildung über die Festivalsonderausgaben der Magazine.

Und was hat das Festival dem entgegenzusetzen? Sehr viel würdevolles Kino im Wettbewerb, und den amerikanischen Komiker Jerry Seinfeld, der sich in einem Bienenkostüm als Werbegag für den Zeichentrickfilm "Bee Movie" vor dem Carlton in die Luft hieven ließ - was von Selbstironie zeugt, aber nicht von viel Gefühl für Stil. Irgendeiner muss sich ja zum Affen machen, die Demontage über sich ergehen lassen, die ein Spektakel braucht. Sonst bleibt alles skandalfrei am Rand des roten Teppichs.

Dramaturgie durch Sarkozy

Louis Garrel, der bei Honoré die Hauptrolle spielt und auch noch in Valeria Bruno-Tedeschis Un-certain-regard-Beitrag "Le rêve de la nuit d'avant", ist auch so ein Fall, ein Festivalstar, aber keine Touristenattraktion, dafür ein wundervoll versponnener ewiger Träumer. Honorés "Les chansons d'amour" ist ein melancholisches Musical in drei Akten, ein junges Paar, Ismaël (Garrel) und Julie (Ludivine Sagnier), hat sich auf eine ménage à trois eingelassen und kann sie nun gar nicht richtig genießen, weil sich Zweifel breit machen und Eifersucht.

Und dann stirbt Julie, ganz plötzlich, an einem Schlaganfall, und Ismaël muss sich an ihre Abwesenheit gewöhnen, trauern lernen und zurück ins Leben finden. Er versucht die Leere zu füllen mit anderen Menschen - neben irgendjemandem aufwachen, egal welchen Geschlechts. Besonders herzzerreißend ist es, wenn er seine Verzweiflung zu überspielen versucht, sich Mühe gibt, Julies Familie aufzuheitern, obwohl ihm zum Heulen ist. Sarkozys Auftauchen gibt dem Film irgendwie etwas Parabelhaftes - als sehne sich die Geschichte um Schmerz und Wiederauferstehung schon nach einer Epoche als jener, die gerade erst begonnen hat, nach einer anderen Zeit.

Schönheit der Melancholie

Honorés Filme sind kleine Oden ans französische Kino der Sechziger, aber es kommt dann doch keine Beschwörung besserer, längst vergangener Zeiten dabei heraus. Die Welt ist ihm nur viel zu ordentlich und faktisch geworden. Wie Honoré sich die französische Filmgeschichte zu eigen macht, das hat überhaupt nichts mit Imitation zu tun - in seinem letzten Film, dem Nouvelle-Vague-Stück "Dans Paris" waren es auch schon Eindrücke, Stimmungen, Blicke, die man plötzlich wiederzuerkennen glaubte.

In den "Chansons" sind es auch Kleinigkeiten, die zu Honorés cineastischen Helden Jacques Demy führen und seinen Musikfilmen - der Anfang eines Lieds, eine Fahrt über eine mit Plakaten vollgeklebte Mauer, der Regen, der weiße Catherine-Deneuve-Mantel, den Ludivine Sagnier trägt, und die Schönheit der Melancholie. Honoré sehnt sich nicht nach den Sechzigern selbst, sondern nach der Romantik, die er in alten Filmen findet, nach der Selbstverständlichkeit, mit der sich sentimentale Sätze singen lassen, die gesprochen schal klingen würden - lieb mich, aber nicht zu sehr...

Ländliches Idyll?

Wenn man singt, sagt Louis Garrel, entledigt man sich der irdischen Fesseln. Der russische Wettbewerbsbeitrag "Izgnanie" von Andrej Zviagintsev bemüht ein noch viel weiter von Hollywood entferntes Referenzsystem. So schön es ist, zuzuschauen, wie der rumänische Beitrag "Vier Monate, drei Wochen und zwei Tage" vom Abtreibungsdrama zum Thriller wird, wie Wong Kar-Wai Edward Hopper für sich entdeckt - das Kino spricht auch noch eine andere Sprache.

Zviagintsev (auch er ein Neuling in Cannes, der mit "Die Rückkehr" allerdings vor vier Jahren in Venedig gewonnen hat) leistet sich sein eigenes Erzähltempo, sehr lange Fahrten, einen verharrenden Blick. Es geht um einen furchtbaren Urlaub auf dem Lande, ein Mann fährt mit Frau und Kind ins verlassene Haus seines Vaters, und in den Feldern und den Bergen dort, im Verlauf eines Baches, der sich seien Weg bahnt, findet Zviagintsev den Überlebenswillen und die Anpassungsfähigkeit, die seinen Figuren fehlt.

Ausgehend von dem lapidar ausgesprochenen Satz "Es ist nicht dein Kind" legt er, qualvoll und langsam, eine zerrüttete Beziehung frei hinter einer idyllischen Fassade - Mark und Vera spielen Ehepaar für ihr Publikum, die Freunde, die Kinder. Auch hier geht es wieder um Abtreibung, vor allem aber um die Unfähigkeit zu kommunizieren. Wenn die Kamera das Elternhaus auf dem Land abtastet, dämmert einem, dass Menschen, die hier aufgewachsen sind, keine weichen Stellen haben können.

Asche zu Asche...

Der Mann hört nicht zu und schaut nicht hin, er will für alle nur das Beste, ist durchaus bereit, Opfer zu bringen, entscheidet am Ende, dass Vera das Kind abtreiben soll. Und setzt erst nach ihrem Tod die Puzzleteile zusammen, die ihm klarmachen, dass er lange schon nichts mehr mitbekommen hat von dem, was in ihr vorging. Wie man tatsächlich seine Irritationen und Missverständnisse teilt, wie das Gesagte, die fehlinterpretierten Gesichtsausdrücke sich schließlich logisch zusammenfügen, das hat Zviagintsev ganz unaufgeregt inszeniert.

Der Einzige, mit dem Mark reden kann, ist sein Bruder - aber auch diese Gespräche bleiben ergebnislos, als hätten beide vor allem den Kontakt zu sich selbst verloren, zu irgendwas innen drin, was hinausgeht über bloßes Funktionieren."Izgnanie" ist am Ende von der selben Sehnsucht nach Emotionen erfüllt wie Honorés "Chansons d'amour", bloß ohne jede Hoffnung. Die Toten von Zviagintsev sind für immer Vergangenheit, die von Honoré erfüllt die Erinnerung mit Wärme und Leben.

© SZ v. 19./20.5.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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