Filmfestival Cannes:Im Luftraum überm Lotterbett

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Gaspar Noë präsentiert einen Porno in 3-D - Jacques Audiard zeigt echte Liebe.

Von Tobias Kniebe

Sie kommen in aller Frühe, wenn die Straßenreiniger vor dem Palais noch den Staub des Vortags wegspritzen, dann harren sie aus bis zur letzten Spätvorstellung. Die Kartenjäger von Cannes, die bei den offiziell Akkreditierten um Tickets betteln, kennen keine Müdigkeit. Endlose Filmlust treibt sie an, und wenn sie handgeschriebene Wunschzettel mit Festivaltiteln wie "Love" oder "Youth" in die Höhe recken, ergibt das ein Bild des Begehrens, dessen Symbolkraft noch weit über das Kino hinausweist.

Vor allem aber sind sie ein Gradmesser für den Ruf, der einem Film vorauseilt, und für die Angst, gerade dieses Werk zu verpassen. So bildet sich bald eine Art Tauschwert, inoffiziell natürlich und vom Festival nicht gewünscht. Auf die Frage etwa, was der aktuelle Wechselkurs für Gaspar Noës Mitternachts-Screening "Love" sei, antwortet eine füllige, mit wuchtigem Goldschmuck behangene Jägerin: "Vier erstklassige Karten für den Chinesen." Mehr geht nicht, heißer als "Love" kann ein Film in Cannes nicht gehandelt werden.

Und man fragt sich dann schon, während man im Geschiebe vor dem Eingang fast stecken bleibt und der Regisseur auf dem roten Teppich frenetisch gefeiert wird, warum das so ist. Jenseits des Festivals ist der argentinisch-französische Filmemacher Gaspar Noë nur ein Name für Eingeweihte, den Cannes-Besuchern aber hat er zwei unvergessliche Erlebnisse beschert: Einmal "Irréversible", 2002, wo er die wohl längste und härteste Vergewaltigungssequenz der Filmgeschichte zeigte; und dann "Enter The Void", 2009, eine tranceartigem Seelenwanderung durch die Rotlichthöhlen von Tokio.

Romantisch? Schockierend? Oder nur viel nackte Haut... Murphy (Karl Glusman) in "Love" von Gaspar Noë. (Foto: Festival)

Was aber wollen die Cineasten, wenn man ihnen mit solchen Bildern ein Stück ihres Seelenfriedens raubt, und zwar für immer? Sie wollen mehr. Und das soll "Love" nach den Vorberichten auch sein: ein gleichermaßen romantischer wie schockierender Liebesfilm, in dem man alles sieht, was man sonst nur in Hardcore-Pornografie sehen kann, und das sogar in 3-D.

Die expliziten Erwartungen werden bald erfüllt, irgendwann fliegt sogar Sperma in Zeitlupe durch den dreidimensionalen Luftraum über dem Lotterbett. Was Noë aber wirklich will, enthüllt sich dann in den ersten Dialogszenen, die man in solcher Länge von ihm gar nicht kennt: nämlich ein hübsches junges Paar in einem echten Amour fou zeigen, stürmisch, voller Eifersucht und ein bisschen experimentell, aber vor allem glaubwürdig ineinander verliebt. Dazu braucht man ganz andere Fähigkeiten als für das visuelle Schockkino, und dann zeigt sich, dass Noë diese Fähigkeiten einfach nicht hat. Seine (nicht zufällig gänzlich unbekannten) Darsteller wiederum belegen die These des Kollegen Lars von Trier, der in ähnlich expliziten Gefilden unterwegs ist: Der Wille zum totalen Exhibitionismus vor der Kamera geht praktisch nie mit echtem Schauspieltalent einher. Leider.

Freude, Trauer, Angst, Zorn - beim Pixar-Studio sind das lustige Animationsfiguren

Große Erwartung, auf die noch größere Ernüchterung folgt, das ist leider ein häufiges Erlebnis in diesem Cannes-Jahrgang. Zum Beispiel auch bei Hou Hsiao-Hsien, dem Meister der flüchtigen Erzählkunst aus der taiwanesischen Nouvelle Vague, der sich mit "Nie Yinniang /The Assassin" an ein ziemlich traditionelles historisches Martial-Arts-Drama wagt. Das hätte er besser bleiben lassen, denn selbst für die simpelsten Anforderungen einer Art Game-of-Thrones-Dramaturgie fehlt ihm das nötige Handwerk. Wer gegen wen und warum? Man versteht es einfach nicht.

So ist man dann doch wieder sehr froh um die Leidenschaft fürs Storytelling, die zum Beispiel beim amerikanischen Computer-Animationsstudio Pixar gepflegt wird. Dort wird jeder ermutigt, das Unmögliche zu denken, etwa mit der Ansage: Wir zeigen jetzt mal, wie es im Inneren des menschlichen Gehirns aussieht, wo Emotionen wie Freude, Trauer, Angst, Zorn und Ekel um die Macht über die Schaltzentrale ringen, während Erinnerungen produziert, abgespeichert, ins Langzeitgedächtnis verschoben und schließlich wieder vergessen werden. Und dann setzen sie bei Pixar ihre besten Köpfe, hier angeführt von Pete Doctor, fünf Jahre lang daran - und heraus kommt ein Film wie "Inside Out", der außer Konkurrenz gezeigt wurde.

Kann das funktionieren, wenn alle Emotionen nun lustige Animationsfiguren sind: Freude bunt, Zorn natürlich rot, Ekel grün, und so fort? Und kann man so etwas Abstraktes wie Gedanken und Erinnerungen in bunte Pixar-Szenen verwandeln, die im Kopf eines neunjährigen Mädchens spielen, das erste Erfahrungen mit Heimweh, Verlust, Einsamkeit und Entfremdung macht? Es geht nicht nur, es gewinnt sogar eine existenzielle Dringlichkeit, wie sie nur die besten Filme überhaupt erreichen - und erlaubt am Ende auch einen Blick ins Innere der Pixar-Köpfe. Dort überlebt ein Wille, immer wieder originell und überraschend zu sein, der auch von Heerscharen grauer geklonter Vermarktungskalkulationen nicht ganz besiegt werden kann.

Ein Regisseur, der das Erzählen wirklich ernst nimmt, ist dann im Wettbewerb auch der Franzose Jacques Audiard. Seit er im Jahr 2009 mit "Ein Prophet" den Grand Prix von Cannes gewann und dann mit "Der Geschmack von Rost und Knochen" gleich einen weiteren Treffer gelandet hat, ist er allen Mitstreitern in der Nach-Godard-Generation, die inzwischen auch die Sechzig erreicht hat, weit davongezogen. Diesen Vorsprung baut er mit "Dheepan" nun noch aus, indem er aus einer völlig neuen Richtung kommt und dem durchgehenden Drive seiner Geschichten doch zugleich vollkommen treu bleibt.

An der Oberfläche macht er Gefängnisfilme, Behindertenfilme oder wie in "Dheepan" Flüchtlingsfilme - wie allzu viele andere im subventionierten Fleißbildchen-Kinosystem Europas, in dem Filmförderung und Weltverbesserung sich zu einer Allianz des Schreckens ohne Ende verbunden haben. Dheepan, sein neuer Protagonist, war Tamilen-Rebell in Sri Lanka, jetzt baut er sich ein Leben in der Pariser Banlieue auf, mit einer falschen Frau und einer falschen Tochter - nur so gab es Asyl. Die Kleingangster aber, die dort einen Drogenkrieg vom Zaun brechen, haben nicht mit seiner Kriegserfahrung gerechnet . . .

Audiards Geheimnis ist, dass ihn immer nur das Individuum interessiert, das in feindlicher Umgebung bestehen muss, ohne sich je als Untertan zu begreifen - staatliches Handeln spielt da keine Rolle, oder nur als ein Faktor unter tausend anderen. So schreibt er inzwischen die besten Überlebensgeschichten, die Europa zu bieten hat, und ist zugleich der präziseste Beobachter sozialer Verhältnisse. Und: Für den Moment der Liebe, den seine falsche Familie am Ende teilen darf, würden wir glatt alle Sexszenen von "Love" eintauschen.

© SZ vom 22.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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