Filmfestival Cannes:Erinnerst du dich an dein Leben?

Lesezeit: 3 min

Ruhepause aus Japan, Aggression aus Frankreich: Für die Goldene Palme fehlen die klaren Favoriten.

Tobias Kniebe

Wie jedes Jahr, wenn die Filme des Wettbewerbs zum Großteil gelaufen sind, kommt man an der Palmenfrage kaum noch vorbei. Die Franzosen mochten vor allem Mike Leighs Another Year, weil er in tiefster englischer Vorstadttristesse das kleine Glück einer intakten Familie feiert. Alejandro González Iñárritus Barcelona-Blues Biutiful hat ebenso seine Fans gefunden, und Xavier Beauvois' Klosterdrama Des Hommes et des Dieux gilt als Anwärter wegen seiner zurückgenommenen, fast mönchischen Konsequenz. Einen klaren Favoriten mit Palme-d'Or-verdächtigem Zehn-Minuten-Applaus nach der Galavorstellung bringt aber auch diese letzte Runde nicht.

Welch sanfte Seele ist doch Apichatpong Weerasethakul! Der thailändische Filmemacher macht mitOnkel Boonmee, der sich an seine früheren Leben erinnern kannseinem Ruf als Traumtänzer des Weltkinos wieder alle Ehre. (Foto: Foto: dpa)

Schurken im Staatsdienst

Dafür verpasst Ken Loach, erst in letzter Minute in den Wettbewerb aufgenommen, dem Festival einen kräftigen Aggressionsschub. Sein Route Irish ist im Grunde ein Irak-Kriegsfilm, der bis auf ein paar eher überflüssige Rückblenden ausschließlich in Liverpool spielt - das ist die erste gute Idee. Die zweite steckt in der Entscheidung, die Schurken im Staatsdienst einmal außen vor zu lassen und ins Milieu der privaten Irakkriegs-Söldner einzutauchen. Einer von ihnen ist in Bagdad getötet worden - aber sein bester Freund und Mitkämpfer, der schon zurück in England ist, will die offizielle Version dieses Todes nicht glauben.

Ein hochgefährlicher Elitekämpfer auf der Suche nach vertuschten Wahrheiten, das weckt natürlich gewisse Rambo-Assoziationen. Ken Loach bedient diese auch, was einigermaßen überraschend ist - er unterwandert sie aber gleichzeitig auf interessante Weise. Da gibt es zum Beispiel eine Waterboarding-Folterszene in einer britischen Garage, bei der man in jedem Moment auf der Seite des Folterers ist - und muss doch wenig später den Wahnsinn und die Nutzlosigkeit dieser Tat schockartig begreifen.

Mensch, Fabelwesen und Natur

Welch sanfte Seele ist dagegen doch Apichatpong Weerasethakul! Der thailändische Filmemacher und Installationskünstler macht seinem Ruf als Traumtänzer des Weltkinos wieder alle Ehre. Zwar erinnern auch hier Soldaten in Uniform einmal vage an die aktuelle Repression in Thailand - aber eigentlich geht es ihm um eine Vision von somnambuler Schönheit, die sich jeder einfachen Deutung entzieht. Wie kein anderer schafft er animistische Verbindungen zwischen Mensch, Fabelwesen und Natur.

Lung Boonmee Raluek Chat / Onkel Boonmee, der sich an seine früheren Leben erinnern kann folgt einem Sterbenden in den Dschungel, wo er hilfreiche Geister trifft, aber auch freundliche, tiefschwarze Zottelwesen mit rotglühenden Augen. Die Handlung schreitet ohne jede Eile bis zum Begräbnis des Onkels voran, eingebettet in einen breiten, bilderreichen Bewusstseinsstrom. Da kann Poesie in den Bewegungen einer elektrisch geladenen Fliegenklatsche liegen, an der nächtliche Motten verschmoren, oder auch in einer Unterwasser-Begegnung zwischen Frau und Fisch, die gleichermaßen Geburts- wie Kopulationsszene sein könnte. Die Farnblätter unterm Dschungel-Wasserfall scheinen jedenfalls zum Geschehen zu nicken - mit dem Blick dieses Filmemachers sieht man auch als Zuschauer plötzlich überall Geist und Leben, wo vorher nur Pflanzen oder Felsen waren.

Nach dieser Ruhepause kehrt die Aggression dann verschärft zurück - mit Ansage gewissermaßen, denn Rachid Boucharebs Hors la loi / Außerhalb des Gesetzes hatte bereits im Vorfeld des Festivals Kontroversen ausgelöst (siehe unten). Die Drohungen französischer Nationalisten führten dann jedenfalls zu massiver Präsenz von Spezial-Gendarmerie in Cannes und dazu, dass allen Kinobesuchern die Wasserflaschen abgenommen wurden; statt eines Sicherheitschecks mit Abtasten und Taschendurchsuchung gab es sogar zwei. Drinnen im Kino erfährt man alsbald die koloniale Ausbeutung Algeriens und das Massaker von Sétif tatsächlich als französische Verbrechen. Die Geschichte dreier algerischer Brüder, die alles Hab und Gut und ihren Vater verlieren und mit der Mutter nach Frankreich übersiedeln, zeichnet anschließend aber doch ein sehr viel breiteres Bild des ganzen Algerienkonflikts bis zur Unabhängigkeit 1962.

Einer der Brüder wird sofort Zuhälter und verdient sein Geld in der Pariser Halbwelt; der andere tritt der französischen Armee bei und kämpft in Indochina, wo er nicht nur das Töten lernt, sondern auch vom Sieg einer Guerillaarmee gegen eine übermächtigen Kolonialmacht inspiriert wird. Der dritte schließlich wird im Gefängnis zum Terroristenführer geschult, mit seiner Intellektuellen-Brille und seinen fanatischen Ideen wirkt er wie eine Art algerischer Malcolm X.

Schleichende Entmenschlichung

Dass eine Unrechtsherrschaft nicht ewig bestehen kann und dass auch die Algerier in Frankreich keine andere Chance hatten, als sich gegen Unterdrückung und Missachtung zu wehren, macht Bouchareb hinlänglich klar. Er zeigt aber auch ganz bewusst den Preis, der für die Fanatisierung des Kampfes zu bezahlen ist, und findet zwischen den Brüdern eindeutige Szenen für die schleichende Entmenschlichung, die jede Terrorbewegung in sich trägt.

Ein solcher Film verdient keine dumpfen Proteste, ein Triumph des Filmemachens ist er am Ende aber auch nicht: Etwas zu angestrengt wirkt der Versuch, mehr als zwei Jahrzehnte französischer Historie in eine Familiengeschichte zu packen, etwas hölzern und deklamatorisch sind immer wieder Bekenntnisse zur Freiheit Algeriens oder die emotionalen Zustandsbeschreibungen der Figuren. Sodann möchte Bouchareb nicht nur Geschichtsunterricht erteilen, sondern - inspiriert unter anderem von Melvilles Armee im Schatten - auch große Kintopp-Schauwerte und actionreiche Ballereien liefern. Am Ende ist das vielleicht sogar die wirkungsvollste Deeskalationsmaßnahme: Die Aufladung mit konventionellen Erzählmustern war schon immer der beste Weg, jedes politische Kino zu entschärfen.

© SZ vom 22.05.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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