Filmfest Venedig:Fremder in einer hartherzigen Welt

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Am Abend vor seiner Eröffnung feiert das Filmfestival in Venedig den großen Orson Welles, mit einer Vorführung seines neu restaurierten "Kaufmann von Venedig".

Von Fritz Göttler

Mein ganzes Leben lang wollte ich Shylock spielen, hat der große Filmemacher Orson Welles erklärt, und mein ganzes Leben lang hat es ein Mensch namens Hitler unmöglich gemacht. Für den trübseligen Dänen Hamlet - der Top-Part der übrigen Shakespeare-Akteure - hatte er sich nie begeistern können. Welles zog Macbeth, Othello und Falstaff vor - die er alle in Filmen verkörperte - und vor allem den "Kaufmann von Venedig". 1960 wäre es dann so weit gewesen, Welles sollte den Shylock in London spielen, aber dann tauchten Ende 1959 antisemitische Schmierereien an einer Synagoge in Köln auf, "wie der widerliche Ausschlag einer Krankheit", Zeichen von Fremdenhass, der weltweit das Christfest verdunkelte. "Wir sehen", schrieb Welles am 16. Januar im Daily Express, um zu erklären, weshalb er den Shylock nun doch nicht spielen könne, "dass der Nazi wohl doch kein ausgelöschtes Monster ist. Er kriecht langsam wieder hervor in der Nacht. Bisher ist er nur mit einem Pinsel bewaffnet . . ." In dieser Atmosphäre könne er nicht im Kostüm eines venezianischen Ghettojuden auf der Bühne erscheinen, schrieb Welles, daher müsse er für diesmal den "Kaufmann von Venedig" absagen.

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