Festival:Studio frei für die Zukunft

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Die nächste Generation des globalisierten Pop schiebt die Regler hoch beim Puls-Festival im Bayerischen Rundfunk

Von Stefan Sommer

Pop ist auch die Kunst der Wahrsagerei - mit Blick in eine glitzernde, konfettibunte (Disco-)kugel. Nicht nur jetzt, da so kurz vor Jahresende die "To-Watch-In-2017"-Listen anstehen, sieht man sich im Bereich des Popmusik dazu gezwungen, Prognosen zu treffen. Es gilt, schneller als alle anderen Bescheid zu wissen, messbar in Credibility und Hipness, und schneller als alle anderen zu handeln - messbar in Geld. Wer in dem Youtube-Clip eines Teenagers namens Justin Bieber aus der kanadischen Provinz vor einigen Jahren den kommenden Weltstar witterte, ist heute Multi-Millionär.

Das vierte Puls-Festival stellte am Samstagabend im Funkhaus des Bayerischen Rundfunks auf drei Bühnen einige Künstler vor, die in den kommenden Jahren die Szene verändern, vielleicht sogar bestimmen könnten. Wie das Eurosonic Festival in Groningen und das SXSW in Austin war das Event eine sorgfältigst ausgewählte, klug konzipierte Leistungsschau der nationalen und internationalen Pop-Avantgarde, die mit den Local Natives, Mule & Man, Ry X und Drangsal auch bereits bekannte Größen im Programm hatte. Dazu wurden einige drängende Fragen beantwortet: Bilden Daft Punk und Justice eine Supergroup namens C .O.W. ? Können Manga-Figuren wirklich tanzen? Und wer trägt nach dem Tod von Udo Jürgens eigentlich seine Bademäntel?

Aber der Reihe nach: Der Abend begann im Studio 2 mit dem Londoner Kollektiv Kero Kero Bonito um die Sängerin Sarah Midori Perry. Geschminkt wie eine japanische Manga-Figur, hauchte und tänzelte sie im kurzen Set der Band wie eine exotische Lolita durch Euro-Dance-Trash und K-Pop-Referenzen. Auch ohne Schuluniform funktionierte der bonbonsüße Hyper-Affirmations-Pop der Briten ausgezeichnet. Wieder und wieder kicherte Perry in einen pinkfarbenen Telefonhörer, den sie für einige Songs als Mikro benutze. Devot, kindlich und lasziv wie ein Avatar aus einer ständig aufploppenden Werbung für eine Internet-Plattform mit Kinderschutz-Restriktionen, flüsterte sie ins Publikum: "We love you all, so much", "oh yes, we love you".

Als großes "Mysterium" des Festivals angekündigt, geistern C.O.W. schon seit einer ganzen Weile durch die einschlägigen Foren und Blogs. Die Identität der Mitglieder ist noch unbekannt. Auf der Bühne des Studio 2 trugen sie nun Masken mit im Pixel-Stil verfremdeten Gesichtern von Menschen darauf, die sie möglicherweise, aber eben wirklich nur möglicherweise selbst sind. Kolportiert ist nur so viel: Sie kommen aus Berlin und Peking. Ihr Future-Bass-Trap-Amalgam ist dabei eines der Ausrufezeichen dieses Abends. Beweise für die Verschwörungstheoretiker-Hypothese, dass Daft Punk und Justice sich dahinter verbergen könnten, ließen sich aber auch während dieses selten Liveauftritts des Kollektivs nicht ausfindig machen. Ob es C.O.W. 2017 gehen wird wie Banksy oder Elena Ferrante? Um diese Gruppe wird man in den nächsten Monaten jedenfalls nicht herumkommen.

Das gilt auch für die neuesten Vertreter der Berliner-Schule: Isolation Berlin. Ihr rauschhafter Auftritt geriet zu einem KurtCobain-haften Drahtseilakt zwischen Selbsterhöhung und Selbstmord. Gefühlsmäßig zwischen Leben und Tod schwankend, hat sich die Band um ihren Sänger Tobias Bamborschke förmlich zerrissen. So viel Wut, Selbsthass und Verletzlichkeit hat deutscher Indie seit "Kapitulation" von Tocotronic wohl nicht erlebt.

Höhepunkte des Festivals waren dann der Auftritt der heimlichen Headliner, der Local Natives und die Konzerte des Goth-Poppers Max Albin Gruber alias Drangsal und Ry X, die im großen Studio mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks auftraten. Was sich über die letzten Ausgaben des Puls-Festivals als schöne Tradition etabliert hatte, gelang auch dieses Mal. Die Streicher-Arrangements gaben sowohl den Songs des Multitalents Drangsal, aber vor allem auch jenen des bärtigen Folk-Sängers Ry X eine pathetische, erhabene Note, neue Tiefe. Lieder wie "Berlin", "Deliverance" und "Howling" des Neu-Berliners funktionierten so gut, als wären sie für eine solche Orchestrierung geschrieben. Die sanfte, brüchige Stimme von Ry X führt durch die elegischen Songs, und das Publikum ist beeindruckt, hört zu und schweigt. Totale, friedliche Stille.

Bliebe noch die Sache mit den Bademänteln. Das führt unweigerlich zum letzten Konzert im Studio 2 von Mule & Man. Kid Simius und Tobias Jundt, Sänger der Band Bonaparte, haben ein neues gemeinsames Projekt. Sie remixen sich selbst und ihre vorangegangen Projekte und spielen donnernden Elektro-Irrsinn mit Verve und Grandezza. Letzter Tagesordnungspunkt der herrschaftlichen Darbietung: Für ihre Zugaben trugen sie Udo-Jürgens-Gedächtnis-Bademäntel. Manchmal ist Pop eben auch die Kunst des Recyclings.

© SZ vom 28.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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