Erinnerungsplattform gegen Lukaschenko:Kampf dem Borstenschnauzer

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Mit ihren Gedichten kämpfen sie gegen den Diktator Alexander Lukaschenko und gehen dafür ins Gefängnis. Nun haben weißrussische Regimegegner eine Plattform ins Internet gestellt, die die Helden im Kampf gegen die Willkürherrschaft in Erinnerung halten soll.

Tim Neshitov

Während deutsche Medien am Wochenende meldeten, das Bundesinnenministerium habe weißrussische Polizisten mit Schlagstöcken ausgerüstet, stellten weißrussische Oppositionelle in Warschau die Internetseite palitviazni.info vor. Palitviazni heißt "politische Häftlinge" und soll an die Opfer des Regimes von Alexander Lukaschenko erinnern. Einige von ihnen sind womöglich auch mit Schlagstöcken made in Germany in Berührung gekommen.

Alexander Lukaschenko lässt Wahlen fälschen und Oppositionelle beseitigen: Weißrusslands Präsident gilt als letzter Diktator Europas. Im Januar 2011 ist er - nach Protesten gegen mutmaßliche Wahlfälschungen - zu seiner vierten Amtszeit angetreten. Laut einer polnischen Zeitung fürchtet Lukaschenko das "Anti-Putin-Virus" der Moskauer Demonstranten. Zu Recht: Auch in Weißrussland ist die Unzufriedenheit in den letzten Monaten dramatisch angestiegen. (Foto: REUTERS)

Die Seite dokumentiert auf weißrussisch, englisch, polnisch und russisch die Schicksale von bisher 178 Regimegegnern und ihren Familien, eine Liste, die laut den Autoren ständig wächst. Man erfährt etwa, dass der Literaturwissenschaftler und Menschenrechtler Ales Beliatski, 50, nach mehreren Abmahnungen der Gefängnisleitung wieder Briefe an seine Familie schreiben darf. Abgemahnt wurde er, weil er seine Portion Brot aus der Kantine auf die Zelle mitnahm und seine Pritsche mit einem Laken abschirmen wollte.

Beliatski leitete vor seiner Festnahme am 4. August 2011 die schikanierte Menschenrechtsorganisation Viasna ("Frühling") und amtierte als Vize-Präsident der Internationalen Föderation für Menschenrechte FIDH. Zuletzt schickte er aus dem Gefängnis eine Zeichnung, die ihn selbst zeigt mit der Sprechblase: "Ich bin ein böser Verbrecher!!!" Er zeichnete sie auf der Rückseite einer Verpackung für Arbeiterhandschuhe. Beliatski verpackt im Gefängnis Handschuhe.

In seinem Essayband "Laufen um den Genfer See" von 2006 verglich er Lukaschenko mit Hitler, Stalin und Saddam Hussein. Er verglich auch das weißrussische Volk mit anderen Völkern, die Diktatoren hervorbrachten. "Während wir ihnen lauschen, glauben wir, dass uns alles gelingt, dass wir alle besiegen. Aber desto bitterer wird dann der Augenblick des Erwachens. Waren wir das wirklich? Oder schliefen wir, oder waren wir hypnotisiert?"

Dass es die Seite palitviazni.info seit einigen Wochen gibt und dass sie nun in Warschau vorgestellt wurde, hängt wohl mit der Verhaftung von Ales Beliatski zusammen. Denn Beliatski wurde nicht wegen seiner Schriften zu viereinhalb Jahren Straflager verurteilt, sondern wegen Steuerhinterziehung.

Versuch, politische Erinnerungskultur zu etablieren

Als Grundlage dienten dem Staatsanwalt Unterlagen über Beliatskis Bankkonten im Ausland. Über diese Konten erhielt Beliatski zwar nur Spenden an Viesna, mit denen er den Familien politischer Gefangener half, heißt es auf palitviazni.info. Aber einen Teil der Unterlagen bekamen die Behörden ausgerechnet von polnischen Staatsanwälten. Polens Regierung hat sich bei Beliatski für die Panne entschuldigt, das polnische Außenministerium finanziert nun palitviazni.info.

Man erfährt auf der Seite auch von Häftlingen, die bereits entlassen wurden. Etwa vom Dichter Slawomir Adamowitsch, der 2002 Weißrussland verlies und Asyl in Norwegen beantragte. 1995, am Anfang von Lukaschenkos Herrschaft, hatte er ein Gedicht mit dem Titel "Töte den Präsidenten" geschrieben: "Töte diesen Scheißkerl, der / seinen Borstenschnauzer so scheußlich zerwühlt in die Gegend hält / über den weiten Fluren, die immerhin uns gehören / über dem Antlitz der schönen Heimat."

Politviazni.info ist neben der Moskauer Organisation Memorial ein seltener Versuch, im postsowjetischen Raum eine politische Erinnerungskultur zu etablieren. Die Chronisten von palitviazni.info sind Intellektuelle, Anwälte, Mitarbeiter von "Viasna".

Stille Erinnerung an Stalins Opfer

Ihr Ziel beschreiben sie so: "Die Weißrussen dürfen nicht vergessen, in was für einem Land wir leben, und sie müssen begreifen, dass jeder von uns die Liste von politischen Häftlingen fortsetzen kann." Die Seite soll auch daran erinnern, "dass es neben den Helden auch Antihelden gibt - diejenigen, die verhaften, foltern, anklagen und Unschuldige verurteilen." Deswegen sollen auf politviazni.info auch juristische Details dokumentiert werden, Namen von Staatsanwälten, Richtern, Polizisten.

Während der Stalin-Zeit schrieb die russische Dichterin Anna Achmatowa den Gedichtzyklus "Reqiuem", eine stille Erinnerung an Stalins Opfer. Erst 1963 wurde das Manuskript herausgeschmuggelt und erschien in München. Achmatowa verbrachte selbst 17 Monate vor Gefängnistoren, um ihren Mann und ihren Sohn treffen zu dürfen. "Ich bete nicht nur für mich / Sondern für alle, die da mit mir standen / In bitterer Kälte und in der Julihitze / Vor der roten, erblindeten Mauer."

© SZ vom 28.08.2012/pak - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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