"Electric" von den Pet Shop Boys:Neandertaler im Klassenkampf

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Neil Francis Tennant (links) und Keyboarder Christopher Lowe - die Pet Shop Boys bei einem Auftritt in Dortmund am 1. Juli. (Foto: dpa)

"Electric" heißt das neue Album der Pet Shop Boys. Es ist eine Aufforderung zum Tanz, kaum textlastig und eher das Produkt einer musikalischen Muskelzuckung. Doch es verspricht mal wieder: Haltung.

Von Joachim Hentschel

Was hat Karl Marx eigentlich über die Liebe geschrieben? Zum Beispiel das, es ist ganz wunderbar und wird viel zu selten zitiert: "Philosophie und Studium der wirklichen Welt verhalten sich zueinander wie Onanie und Geschlechtsliebe." Oder, 1856 im Brief an seine Jenny: "Aber die Liebe, nicht zum Feuerbachschen Menschen, nicht zum Moleschottschen Stoffwechsel, nicht zum Proletariat, sondern die Liebe zum Liebchen und namentlich zu Dir, macht den Mann wieder zum Mann."

Da kann er an anderer Stelle noch so wild über den Tauschwert der Gefühle schäumen, darüber, wie die bürgerliche Ökonomie die Geschlechterbeziehungen korrumpiert. Wer so von der Liebe sprechen kann wie Marx, der weiß genau, dass sie in diesem Moment mehr ist als reine Möglichkeit, mehr als eine Utopie. Der verkriecht sich bloß hinter der Theorie, um dort in Ruhe knutschen zu können.

Oder andersrum, wie in "Love Is A Bourgeois Construct", dem schönsten Song auf dem neuen, insgesamt elften, auch sonst wieder ausgesucht großartigen Album des englischen Popduos Pet Shop Boys. Die Liebe an sich sei nur ein bürgerliches Gedankengebäude, wiederholt der Sänger Neil Tennant darin immer wieder, im wahren Leben ist er selbst ein Großbürger und mit 59 Jahren in durchaus Marx'schem Alter.

Antikapitalistischer Sommerhit

Er lässt sein lyrisches Ich in diesem Song alte Uni-Papiere durchwühlen, noch einmal im "Kommunistischen Manifest" nachlesen, die Londoner Banker und ihre Boni verfluchen - immer auf der Suche nach der Seele Englands. Und alles geschieht angeblich nur, wie wir beim Hören dieses ansteckenden Flucht-nach-vorn-Ohrwurms bald merken, weil er verlassen wurde, die Liebe eben weg ist. Weil er die bourgeoise Illusion nur loslassen kann, wenn er mit Radau die Mitgliedschaft zur Bourgeoisie aufkündigt. Solch einen antikapitalistischen Sommerhit mit bestechender innerer Logik hätten wir schon damals zum Lehman-Brothers-Crash gebraucht.

Die Pet Shop Boys - Tennant und sein musikalischer Partner Chris Lowe mit seinen Synthesizern - sind seit über 30 Jahren zusammen. Sie sind die guten Onkels und verlässlichen Wegbegleiter der New-Wave-Publikumsgeneration und haben schon öfter kommunistische Bilder benutzt. Im Video von "Go West" zum Beispiel, einer Siebziger-Schwulenhymne, die sie 1993, also relativ kurz nach dem Zusammenbruch der UdSSR, als Westwärts-Marsch einer Rotmützentruppe neu inszenierten. Der Wert der Liebe in Zeiten der postindustriellen Arbeit, das seltsame Gefühl von Entfremdung, das einen auch im eskapistischsten Moment, mitten auf der Tanzfläche, zum Stillstand bringen kann, das waren seit den 80er-Jahren ihre Themen. Wenn auch selten so explizit. 2005 schrieben sie einen neuen Soundtrack für Sergei Eisensteins "Panzerkreuzer Potemkin" und ließen darin die Dresdner Sinfoniker zum Aufstand in Odessa geigen.

Jetzt haben die Pet Shop Boys sich endlich die Produktionsmittel restlos angeeignet, veröffentlichen "Electric", das neue Album, als Erstprodukt ihres eigenen Plattenlabels X2, nachdem sie 28 Jahre beim mittlerweile gesunkenen und aufgekauften Riesen EMI unter Vertrag gestanden haben. Die frische Selbständigkeit ist wohl der Grund dafür, dass "Electric" nur acht Monate nach ihrer letzten Platte erscheint, ein Fall von Überpräsenz mit leichtem Nervfaktor, den eine börsennotierte Marketingabteilung niemals geduldet hätte.

Das Publikum ist ja auch nur begrenzt aufnahmefähig, selbst bei einer so breit und bedingungslos beliebten Gruppe wie den Pet Shop Boys, die man ebenso gut als Studiogäste bei Wetten, dass ..? erleben kann wie in Clubs mit ausgesuchtem DJ-Programm. Umso günstiger, dass sich "Electric" tatsächlich anhört, als sei es aus einem Impuls heraus geboren, einer musikalischen Muskelzuckung, die man vielleicht so instinktiv und schnell kapieren kann, wie sie entstanden ist.

Ein Tanzalbum, weniger textlastig, was gar nicht so selbstverständlich ist bei den Boys. Ihnen geht es ja oft ums große Innehalten in der Unruhe. Im Kern melancholisch, nostalgisch veranlagt wirkt ihre Musik dennoch, trotz aller Beats, Lichter und Sirenen - das ist kein Widerspruch! -, ähnlich wie bei den zuletzt endlos bejubelten Daft Punk.

Marx-Liebeslied und Disco-Pop

Tennant und Lowe beziehen sich auf die etwas zeitgemäßeren Muster, auf Acid-House, Italo-Disco, das Zischen und Bollern des frühen Techno, durch dessen Neandertal sie ja selbst gelaufen sind. Ein Sound, der so alt und gleichzeitig so jung ist, dass viele Beteiligte die Partys von damals noch heute in ihren Knochen spüren.

Dass auch ein eher eiliges Werk wie "Electric" im richtigen Kontext bleibt, damit auch der Letzte mitkriegt, aus welcher Haltung heraus hier getanzt wird, stellen die Pet Shop Boys aber doch noch klar, mit Stücken wie dem besagten Marx-Liebeslied oder "Last To Die", einem konventionell erzählten Disco-Popsong. Der sich bei genauem Hinhören als Bruce-Springsteen-Coverversion entpuppt, als Autofahrergeschichte aus der Zeit nach dem Irakkrieg, in der ein heimgekehrter Soldat an seinem Trauma kaut: "Wer wird der Letzte sein, der für einen Fehler sterben muss?" Bei Neil Tennant klingt das mehr wie ein Familiendrama. Im Ford Mondeo unterwegs zu den Verwandten, Kind schläft auf dem Rücksitz, kaltes Schweigen. Zeit für eine Art von Revolution.

Was hat Jacques Lacan über die Liebe geschrieben? "Liebe ist die Gabe dessen, was man nicht hat, an jemanden, der es nicht will." Auch das hätten die Pet Shop Boys sicher gern selber gedichtet.

© SZ vom 12.07.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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