Die CDs der Woche - Popkolumne:Von wuchtiger Schönheit

Popkolumne, Naked Lunch

Das Album "All is Fever" von Naked Lunch.

Stets eilt Jamie Lidell das Prädikat "brillant" voraus - für sein neues Album, auf dem es Club-Hits hagelt, ist es nicht anders. Für die traurigen Momente im Leben bietet die Band Naked Lunch hingegen depressive kleine Glückgriffe. Das und mehr - zum Lesen und Hören in unserer Popkolumne.

Von Max Scharnigg

Jamie Lidell

Berlin, New York, Nashville - schon geografisch ist Jamie Lidell ein ganz schöner Wunderwuzzi. Dass der britische Soundklöppler und Elektrist nun ausgerechnet im Country-Mekka ein Haus bezogen hat und dort eine selbstbetitelte und selbstaufgenommene Platte herausbringt, ist aber gar nicht so verrückt.

Zwar ist Lidells Sound wirklich frei von Countryspuren, aber seine Liebe für alte Synthesizer und analoge Aufnahmegeräte im eigenen Keller passt dann doch wieder irgendwie zum schrullig-authentischen Nashville. Es eilt dem siebten Album Lidells selbstverständlich das Prädikat "brillant" voraus, das ihm die Musikpresse schon häufiger verpasste, und seine Prince-Sozialisation, die er in jedem Interview anspricht.

Brillanz und Prince ist auf "Jamie Lidell" (Warp Records) nun auch im Überfluss zu finden, man begleitet diesen getriebenen Tastendrücker in eine dampfige Achtziger-Disco, lässt sich von seinen Referenzen an Motown und Soulhouse den ein oder anderen Retro-Tiefschlag gefallen und findet doch immer wieder einen Bezug zum Hier und Jetzt.

Darin liegt die Brillanz des Enddreißigers, der am Schreibtisch eine Zeitreise so überzeugend und echt zusammenschrauben kann, dass man als Hörer komplett vergisst, ob man überhaupt Lust auf ein Wiedersehen mit schrillen Keyboards hatte. Das Album braucht etwas, bis es die Schulterpolster abwirft und Lidell Ordnung in seine Manie, Orgeln und Funk-Trompeten bringt. Dann aber hagelt es smarte Clubhits wie "So Cold" und "Don't You Love Me", Lidells Stimme ist dabei wohlgemerkt kein Soundeffekt, sondern ernsthaftes, variables Instrument mit beeindruckender Bandbreite. Sollte man im Konzert erleben - und zwar nicht nur als Ersatz für Prince.

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Palma Violets

Das britische Popjahr geht traditionell erst richtig los, wenn die erste Knabenband durch die Stadt getrieben ist, mit Vorschusslob dekoriert wie die Pfingstochsen. Dieses Jahr erfüllen die Palma Violets diese undankbare Aufgabe, immerhin hat der NME ihre Single "Best Of Friends" zum besten Song 2012 erkoren.

Nur 16 Monate nach Vereinsgründung liegt deswegen jetzt schon das erste Album vor, genannt "180" (Rough Trade). Dass es so schnell geht, heißt aber nichts - wenn eine Band wirklich brennt, ist das erste Material oft das Beste und gerade die Insel giert ja nach dem Glam des Jung-Kaputten, wie es etwa die ganz frischen Libertines einst so schön transportierten.

Instabil verzerrte Suff-Choräle beherrschen die Palma Violets tatsächlich und für manche Abende reicht das auch. Sonst aber ist das Debüt einfach harmlose Jamsession-Aufschneiderei, ein wenig Clash und ein bisschen New-Order-Gitarren, immer nach dem gleichen Muster ineinandergeritten und von den beiden Frontakteuren Sam Fryer und Chilli Jesson stellenweise ("Step Up For The Cool Cats") recht charismatisch vorgetragen.

Ihr Punk wirkt aber immer nur pennälerhaft, ihre Gesten auf der Bühne und in den Songs sind immer zu kurz, der Sound ist insgesamt ziemlich muffig. Doch, dieses Album genannte Rohmaterial hat irgendwo an seinen äußeren Hebriden schon einen gewissen Reiz, aber es bräuchte noch ein paar Monate mehr Konzentration und Ideen. Oder eben gleich mehr Kaputtness. Nur Gun-Club-Platten vom Flohmarkt nach Hause schleppen reicht eben doch nicht ganz.

Naked Lunch

Schade, dass es bei iTunes nicht das Genre "Music to kill yourself" gibt. Die alte österreichische Band Naked Lunch wären da gut aufgehoben. Die Geschichte dieser vielfach gescheiterten, teils gestorbenen, teils zwischenzeitlich obdachlosen Musiker verdient eines Tages eine große Würdigung, hier ist vorerst festzuhalten, dass das neue Album "All Is Fever" (Tapete) so gut ist wie 2007 schon "This Atom Heart of Ours".

Die gleiche Zähigkeit, mit der sie immer noch Band sind, obwohl sie den Abschied schon so oft mit ihren Gitarren hinausgetrotzt haben, lässt sie heute an jedem Lied so lange kratzen, bis wirklich Gold kommt.

Mal ist da Pathos, das mit wuchtiger Schönheit gegen den Wahnsinn ansingt, meistens sind es aber die kleinen, depressiven Glücksgriffe mit Piano, Streicher und Gitarre, die zusammen mit Oliver Welters fragilem aber niemals jammerndem Gesang dem Empfindsamen die Buletten extrem flau werden lassen. Das letzte Lied heißt "The Funeral", natürlich, und ist eine Gallenoper bis dorthinaus. Keine Hoffnung bleibt da, außer vielleicht, ja, die auf einen letzten Kuss, verpackt als Lied. Bitte trotzdem weitermachen!

Fortlaufende Popkolumne der SZ.

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