Debatte um den Zölibat:Die Angst der Kirche vor der Sexualität

Die Enthaltsamkeit katholischer Priester ist keine Ausgeburt von Religionsfanatismus. Der Zölibat basiert auf einem archaischen Reinheitskult, den Jesus überwinden wollte.

A. Angenendt

Zölibat ist die in der lateinischen Kirche den priesterlichen Amtsträgern abverlangte Ehelosigkeit. Im Neuen Testament spricht Jesus, der unverheiratet war, von Ehelosigkeit "um des Himmelreiches willen" (Mt 19,12). Paulus kennt ein "Unverheiratetsein um des Herrn willen" (1 Kor 7,32). Was er aber nicht als "Gebot", sondern als "Rat" versteht: "Wer heiratet, handelt gut, wer nicht heiratet, handelt besser." Das ist die Höherstufigkeit des Unverheiratetseins, aber kein Pflichtzölibat für höhere Amtsträger. Denn, so Paulus weiter: "Haben wir nicht das Recht eine gläubige Frau mitzunehmen wie die übrigen Apostel ... und wie Kephas" (1 Kor 9,5). Petrus, der erste Papst, hat demnach den höheren Rat nicht befolgt, lebte offenbar nicht zölibatär. Den späteren neutestamentlichen Briefen zufolge sollen Bischöfe und Diakone "nur einmal verheiratet" (1 Tim 3,2.12) sein und sich als "gute Familienväter" (vgl. 1 Tim 3,4.12) bewähren.

Umfrage: 87 Prozent der Deutschen gegen Zölibat

Die Forderung der Ehelosigkeit für Altardiener kommt aus dem Feld der kultischen Reinheit, heute ist sie schwer umstritten. Das Bild zeigt die Weihe eines Münsteraner Priesters.

(Foto: dpa)

Dass der "Rat" zur Ehelosigkeit nicht eine Ausgeburt von Religionsfanatismus und Sexualfeindlichkeit ist, liest man am besten bei Max Weber nach: Charismatische Personen müssen außerhalb der Bande der Familienpflichten stehen und darum die "faktische Ehelosigkeit zahlreicher Träger eines prophetischen oder künstlerischen Charisma". Sympathischer sind uns von vornherein die anderen "Räte" des Neuen Testaments, der Verzicht auf Besitz und Herrschaft. Das Mönchtum hat diese Räte zu realisieren unternommen. Franz von Assisi und Mutter Theresa, die danach gelebt haben, sind weltweit bewunderte Gestalten. Religion braucht eben "gut Beratene".

Die Forderung der Ehelosigkeit für alle Altardiener kommt von woanders her, aus dem Feld der kultischen Reinheit. Diese besagt: Heiliges darf nur "rein" berührt werden. Als Inbegriff dafür stehen die "reinen Hände". Unreinheit zieht man sich zu durch das Essen bestimmter Nahrungssorten, durch Berühren von Toten, besonders aber durch Beflecktwerden mit Sexualstoffen, mit Mannessamen sowie Menstruations- und Geburtsblut. Wir begegnen hier einem weltweiten Religionsphänomen, anzutreffen genauso in Japan wie in China, in Griechenland wie in Rom, insbesondere in Israel. Dem Alten Testament zufolge verunreinigen sowohl Mannessamen wie Menstruationsblut und wirken ansteckend. Befleckend wirkt auch ehelicher Beischlaf: Es müssen "sich beide in Wasser baden" (Lev 15,18). Ebenso ist die Frau nach der Geburt "unrein" und bedarf eines "Sühnopfers" (Lev 12,2-7).

Demgegenüber vollzog Jesus einen totalen Bruch. Er verabsolutierte die zuletzt schon im Alten Testament angebahnte Umwandlung der kultischen Reinheit in Ethik: Rituelle Waschungen machen Hände nicht rein, unreine Speisen werden durch den Darm ausgeschieden, der Kontakt mit unreinen Menschen, ob nun mit Dirnen, Zöllnern, Sündern (Mk 7,1-6) oder einer blutflüssigen Frau (Mt 9,20-22), befleckt nicht. Reinheit und Unreinheit steigen allein aus dem Herzen auf, kommen aus den guten und bösen Gedanken. Das ist im Vergleich zu aller Religionswelt ein revolutionärer Durchbruch.

Tatsächlich hatte die kultische Reinheit in den ersten christlichen Jahrhunderten keine durchschlagende Bedeutung. Eigens wurde verkündet, auf kultische Waschungen zu verzichten, auch nach ehelichem Beischlaf anderntags die Kommunion empfangen zu können, auch die Geburt mache nicht unrein. Manchen in den Christengemeinden ging das zu weit, sie wandten entweder die alttestamentlichen Reinheitsriten wieder an oder gingen dafür in die Synagoge. In einem Punkt allerdings geschah auch im Christentum ein Zögern: Frauen wurden nicht zum Altardienst zugelassen, obwohl Jesus "Jüngerinnen" um sich hatte und Paulus von "Diakoninnen" spricht. Der Grund ist unschwer zu erahnen: Die Frau galt als Quelle von Unreinheit.

Die große Veränderung kam seit der Spätantike. Heiliges berühren durften nur wieder reine Hände, verstanden nun als unbefleckt von jeder Sexualität. Damit begann die Durchsetzung des Zölibats für alle Altardiener. Die Päpste sind hier seit Gregor VII. (†1085) rigoros vorgegangen, trotz Revolten der Kleriker. Das Zweite Laterankonzil von 1139 verbot allen Klerikern vom Subdiakonat aufwärts die Ehe, denn es sei "unwürdig, dass sie sich geschlechtlichen Ausschweifungen und Unreinheiten hingeben".

Unwürdig, als befleckt

Kluge Köpfe wandten ein, dass Ehelosigkeit ein Rat sei, und als man Priestersöhne rechtlich zu benachteiligen begann, wurden all jene Päpste aufgezählt, die als Priestersöhne auf den Stuhl Petri gelangt waren. Letztlich aber war es doch nicht nur Druck von oben. Unterschwellig zog sich durchs ganze Mittelalter, wie der berühmte Jan Huizinga einmal schrieb, die kultische Reinheit: "Die Sakramente eines Priesters, der in Unkeuschheit lebt, sind ungültig, die Hostie, die er konsekriert, ist nichts als Brot." Sogar Erasmus von Rotterdam (†1536), selbst wie so viele andere Sohn eines Priesters, sah in der kultischen Reinheit immer noch ein Ideal, freilich ein unrealisierbares.

Mit dem Heiligen nur "rein" umzugehen, veränderte das Klerus-Verhalten wie die Liturgie. Bei Berührung der Hostie ging es bis zur Fingerhaltung; "Entziehungswunder" schilderten das Verschwinden der Hostie aus beschmutzten Priesterhänden; Zelebranten beklagten sich als unwürdig, weil befleckt "wie das Tuch einer Menstruierenden". Eigentlich sollten Priester zugleich Mönche sein. Aber auch die Laien waren betroffen. Sie durften wegen ihrer permanent unreinen Hände die Gaben nicht mehr auf den Altar legen, erhielten die Kommunion nicht mehr auf die Hand gereicht, sondern in den Mund gelegt.

Mit seiner kultischen Reinheit stand das mittelalterliche Christentum in bester Religions-Ökumene. Die Judenheit hielt an ihren Reinheitsvorschriften fest und hatte dafür jeweils die Mikwe, das Reinigungsbad mit reinem Quellwasser. Noch heute besteht das orthodoxe Judentum auf dieser Reinigung. Der Islam kannte und kennt bis heute die große und kleine Reinigung. Einer der Tower-Attentäter vom 11. September 2001 - um ein besonders krasses Beispiel zu nennen, das freilich nicht für die Gesamtheit der Muslime gelten kann - verfügte testamentarisch, dass Frauen seinem Leichnam fernzubleiben hätten.

Lesen Sie auf Seite Zwei, wie sich mit der Reformation die Zölibatsforderungen veränderten.

Was, wenn die Zahl der Berufenen dahinschmilzt?

Die Reformation beseitigte die Zölibatsforderung, durchschaute auch das Problem der kultischen Reinheit. Dabei aber entfiel praktisch die "Ehelosigkeit um des Himmelreiches Willen". Der Gewinn allerdings, den das evangelische Pfarrhaus für die europäische Kultur erbrachte, ist unabschätzbar. Im Katholizismus wurde der Zölibat, wo immer das Trienter Konzil griff, zur Normalität wie nie zuvor im Mittelalter. Und kein Zweifel, der Zölibat hat ganze Priestergenerationen zu höchstmöglichem Einsatz motiviert, hat in Zeiten politischen Terrors, wegen der Unabhängigkeit von Familie, resistenzfähig gemacht. Ein nicht-zölibatärer Klerus wird anders leben.

Der jüngste Appell ist ein Notschrei

Uns, den Modernen, vermag die kultische Reinheit in keiner Weise mehr einzuleuchten. Es waren primär die Sexualstoffe, die längst zur physiologisch-biologischen Gegebenheit geworden sind, jenseits aller religiösen Wertung. Die heutige Zölibatsbegründung geht denn auch wieder auf den erstchristlichen Ansatz zurück: Ehelosigkeit als charismatischer Ruf für Priesterdienst und Seelsorge. Wer indes noch grundsätzlich darauf besteht, Priestertum sei nur zölibatär möglich wie auch die Mundkommunion die einzig mögliche Empfangsform, leugnet die religionsgeschichtliche Revolution Jesu Christi.

Keine andere christliche Großkirche hat die charismatische Berufung zur Ehelosigkeit so kompromisslos mit dem Altardienst verbunden wie die römisch-katholische. Was aber nun, wenn die Zahl solcherart charismatisch Berufener dahinschmilzt und die Seelsorge wegen fehlender Priester Schaden nimmt? Seit dem Zweiten Vatikanum war man sich eigentlich einig: Der Zölibat dient der Seelsorge; sonst sind andere Lösungen zu suchen, etwa viri probati, "erprobte verheiratete Männer", zu Priestern zu weihen. So dachte früher auch Joseph Ratzinger. Der jüngst von katholischen Politikern vorgebrachte Appell ist ein Notschrei. Der derzeitige Priestermangel macht zunichte, was das Zweite Vatikanum in die Mitte gerückt hat: die eucharistische Gemeinde um den Altar.

Wegen der veränderten Lebensverhältnisse, vor allem wegen neuer Einstellungen zu Körperlichkeit und Partnerschaft, kann Sexualität nicht länger abwehrend beurteilt werden. Sie gehört zur eigenpersönlichen Entfaltung. Viele Zölibatäre verspüren das, und nicht wenige, die sich einmal ehrlichen Herzens zum Zölibat entschlossen hatten, haben später anders entschieden und ihr Amt verlassen, in den größeren Diözesen hundert und mehr. Bei flexibleren Lösungen könnten immer noch genügend Priester da sein, dass sich die vielbeklagten Gemeinden-Fusionen erübrigten.

Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen

In der Zölibatsfrage kann die römisch-katholische Großkirche freilich nicht eurozentrisch entscheiden. Die überwiegende Zahl der Katholiken lebt außerhalb Europas. Auch hier hat Sexualität ihre besondere Bedeutung, oft mit einem anderen Bild von Mann, Frau und Kind, auch von Reinheit und Unreinheit. Überdies ist die innerkirchliche Lagerbildung so angespannt, dass Anstöße einzelner Bischöfe nach den Pädophilieskandalen, neu über den Zölibat nachzudenken, sofort wieder verstummt sind. Rom scheint zu dem Disput über die Alte Liturgie nicht noch ein weiteres, viel emotionelleres Diskussionsfeld zulassen zu wollen.

Am Ende kann es nur bei der biblischen Ausgangssituation bleiben. Indem das Neue Testament verheiratete Bischöfe und Diakone bezeugt, ist die kultische Reinheit grundsätzlich abgetan. Die gleichzeitig empfohlene Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen ist ein charismatisch-persönlicher Rat. Nur die römisch-katholische Kirche hat diesen Rat der Ehelosigkeit kompromisslos auch für den Altardienst eingefordert. Als Kirchengesetz kann der Zölibat nur so lange bestehen, wie er der Kirche nützt. Eben das ist heute fraglich. Wem ist demnach das größere Verantwortungsbewusstsein zu zusprechen, den Kritikern des Pflichtzölibats oder den Verteidigern?

Arnold Angenendt, geboren 1934, lehrte an der Universität Münster Kirchengeschichte und Liturgiewissenschaft. Er ist katholischer Priester.

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