Comic:Müllcontainer der Erinnerungen

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Ein Haus wird renoviert. Der Vater ist gestorben, die drei Kinder wollen das Haus verkaufen. Spanische Comic-Melancholie von Paco Roca, über das Vergehen der Zeit und das Entrümpeln der Erinnerungen.

Von Christoph Haas

Ein Mann mit Brille und scharf gescheiteltem weißen Haar zieht eine Jacke über, schlägt deren Kragen hoch. Plötzlich greift er an sein Herz, Schwindel erfasst ihn. Er hält sich am Rahmen der offenen Haustür fest, atmet durch und schaut, um seine Kräfte ringend, nach draußen. Nach einer Weile geht er gebeugt hinaus und schließt gründlich ab. Der Flur, in dem er eben noch stand, ist still und leer.

Mit dieser Szene, die ebenso alltäglich wie metaphorisch ist, beginnt ein großartiger Comic. Auf der zweiten Seite zeigt eine Folge von sechs Bildern dann den Wechsel der Jahreszeiten von einem Frühjahr zum nächsten. Der alte Mann ist gestorben, und nun tauchen seine erwachsenen Kinder im Haus auf. José ist Schriftsteller, ein Geistesmensch mit zwei linken Händen, der, wenn er zum Gartenschlauch greift, sich als erstes selbst gründlich durchnässt. Vicente ist Mechaniker und beginnt, kaum eingetroffen, sofort mit allerlei Reparaturarbeiten. Carla, die jüngste, hat die Aufgabe übernommen, sich um den mit einem Erbe verbundenen Papierkram zu kümmern.

Der eine Sohn, spritzt, wenn er mit dem Gartenschlauch hantiert, sich erst mal selber nass

Eigentlich haben die drei nur vor, das Haus ein wenig zu renovieren, um beim Verkauf einen besseren Preis zu erzielen. Schnell aber brechen zwischen ihnen Konflikte auf. Vicente ist von Josés Ungeschicklichkeit und lässiger Lebenshaltung genervt; außerdem wirft er seinen Geschwistern vor, dass er sich allein um den Vater habe kümmern müssen, als dieser, immer schwächer werdend, im Krankenhaus lag. Carla kann nicht verstehen, dass Vicente darauf verzichtet hat, bei dem Sterbenden lebensverlängernde Maßnahmen einleiten zu lassen - wäre dies geschehen, hätte ihre kleine Tochter vielleicht noch etwas länger mit dem Opa zusammen sein können.

Dass diese Graphic Novel, ohne je sentimental zu sein, so überaus bewegend ist, liegt auch an der Art und Weise, wie Paco Roca sie zeichnerisch gestaltet. So ist einmal nicht nur ein randvoller Müllcontainer zu sehen, sondern auch das, was sich in der Erinnerung Josés mit all dem weggeworfenen Kram verbindet: Auf dieser Couch hat er als Kind gebannt ferngesehen; diese Lampe hat ihm beim Lesen im Bett geleuchtet; diese Slipper hat sich der Vater im Sitzen mühsam angezogen. Der Aufenthalt im Haus, wird so deutlich, konfrontiert die Geschwister unerwartet heftig mit ihrer Vergangenheit. Das Haus und alle Gegenstände, die sich in ihm befinden, sind zwar nutzlos geworden, aber mit einem Maximum an persönlicher Bedeutung aufgeladen.

Für das, was der Comic als Medium vermag, für seine spezifischen ästhetischen Möglichkeiten ist "la casa" geradezu exemplarisch. Das ständige Eindringen der Vergangenheit in die Gegenwart, die Parallelität der Zeitebenen lassen sich hier, anders als in einem Film oder einem Roman, eben nicht nacheinander, sondern nebeneinander darstellen: Die Zeit wird zu einem Raum, in dem der Leser seine Blicke umherschweifen lassen kann. Ein weiteres eindrucksvolles Beispiel hierfür ist eine Doppelseite, die zwei Mal, aber im Abstand von vielen Jahren, eine Gartenarbeitsszene zeigt. José als Kind und sein subjektiv riesig wirkender Vater treten in Kontrast zum erwachsenen José, neben dem der gealterte Vater wie verzwergt erscheint.

Die Zeit wird zu einem Raum, in dem der Leser seine Blicke umherschweifen lassen kann

Die Vergangenheit und das Vergehen zählen allgemein zu den bevorzugten Themen des 1969 in Valencia geborenen Paco Roca. In "Der Winter des Zeichners" (2010) hat er am Beispiel der spanischen Comic-Szene der Fünfziger ein bedrückendes Porträt der Franco-Zeit entworfen. "Die Heimatlosen" (2013) schildert das Schicksal spanischer Republikaner, die als Exilanten in der französischen Résistance gegen die deutsche Besatzung kämpften. In "Kopf in den Wolken" (2007) - von Roca selbst erfolgreich verfilmt - geht es um einen Witwer, der ins Altenheim kommt und dort erfolglos gegen seine Alzheimer-Erkrankung kämpft. Inspiriert vom Verlust des eigenen Vaters, ist "la casa" nun eine neuerliche Auseinandersetzung mit dem Altern und dem Tod.

Sympathisch ist, dass Roca seine Virtuosität - die sich auch in der bei ihm stets perfekt auf die jeweilige Situation abgestimmten Kolorierung zeigt - nie ausstellt, sondern fast zu verbergen sucht. So sorgfältig er seine Panels komponiert und arrangiert, so wenig sucht er den grellen Effekt, der schnell ins Auge springt. Paco Roca ist ein Meister der diskreten Eleganz. Er vertraut auf Leser, die ein wenig genauer hinschauen, und wer dies tut, wird von ihm dafür reich belohnt.

Paco Roca (Text und Zeichnungen): la casa. Aus dem Spanischen von André Höchemer. Reprodukt Verlag, Berlin 2016. 128 Seiten, 20 Euro.

© SZ vom 28.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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