Comic:Die Farben des Marmors

Comic: Geheimnisvolles Leuchten: Szene aus der Story "Die Tage der Amsel".

Geheimnisvolles Leuchten: Szene aus der Story "Die Tage der Amsel".

(Foto: avant)

Manuele Fior, bekannt durch seine Schnitzler-Adaption "Fräulein Else", hat einen Band mit kurzen Comic-Stories vorgelegt.

Von Christoph Haas

"Menschen am Sonntag" (2005) und "Ikarus" (2006), die ersten Graphic Novels des 1975 in der Emilia-Romagna geborenen Manuele Fior, waren Talentproben, noch keine großen Würfe. Mit seiner Adaption von Arthur Schnitzlers Novelle "Fräulein Else" gelang ihm 2009 aber etwas sehr Seltenes: ein Comic, der sich seiner weltliterarischen Vorlage als nicht nur ebenbürtig, sondern sogar als überlegen erwies. Im selben Jahr erschien "5000 Kilometer in der Sekunde", eine zugleich episch und elliptisch erzählte Dreiecks-Liebesgeschichte, 2013 folgte dann "Die Übertragung", eine ungewöhnliche, psychoanalytisch inspirierte Science-Fiction-Story.

Seit diesen drei spektakulären Veröffentlichungen gilt Fior als einer der wichtigsten europäischen Comic-Zeichner unserer Tage. Mit dem Band "d'Orsay-Variationen" (2015) legte er eher eine Verschnaufpause ein. "Die Tage der Amsel" versammelt jetzt zehn, zwischen 2007 und 2015 entstandene kurze Arbeiten, manche von ihnen nur ein, zwei Seiten lang; die längste von ihnen, die Titelgeschichte, die an "Die Übertragung" anschließt, erstreckt sich über 26 Seiten. Was zunächst auffällt, ist die Vielfalt der Stoffe und Anlässe. "Wie es uns geht" reagiert auf die Anschläge in Paris vom 13. November 2015, die unter anderem der Konzerthalle "Bataclan" galten. "Postkarte aus dem Salento" ist autobiografische Reminiszenz an eine Urlaubsfahrt in Italien, "Postkarte aus Oslo" eine winzige Vorstudie zu "5000 Kilometer in der Sekunde".

Zwei Geschichten haben dokumentarischen Charakter: In "Großmutter und Enkel" erzählen laotische Migranten von ihrem Leben, während "Gabriel C." auf der Krankenhausakte eines psychisch versehrten Soldaten des Ersten Weltkrieges beruht. Ebenso unterschiedlich sind die Zeichenstile, derer Fior sich bedient. In den Aquarellen von "Gabriel C." sind, wie schon in "Fräulein Else", Schiele, Klimt und Karl Arnold als prägende Vorbilder zu erkennen. Das verwaschene Schwarz-Weiß-Grau von "Großmutter und Enkel" führt, wie in "Die Übertragung", zu Bildern, die ins Traumhaft-Halluzinatorische spielen. Völlig anders wiederum die in Berlin spielende Story "Hilfe!" und die Titelgeschichte, die in ihrer Tendenz zur klaren Kontur an die Ligne-Claire-Aneignungen von Daniel Clowes und Charles Burns erinnern. Die Kurzstrecke dient Fior offenkundig dazu, mit Formen zu experimentieren.

Auch inhaltlich gibt es Gemeinsamkeiten. In fast allen Geschichten geht es um Erschütterungen des Alltäglichen, seien sie nachhaltig oder nur vorübergehend wie in "Hilfe!", wo ein Vater seinen kleinen Sohn auf dem Flughafen Tempelhof aus den Augen verliert. Dazu kommen Momente der Überraschung, die unterstützt von der hervorragenden Kolorierung, etwas von Epiphanien an sich haben. In "Klassenfahrt" sieht man eine ältere, sonst hochgeschlossen auftretende Lehrerin in einer Szene auf dem Bett sitzen und schlecht gelaunt mit ihrem Mann oder Freund telefonieren - sie ist fast nackt und dadurch plötzlich eine ganz andere Frau. In "Die Tage der Amsel" wird ein Ingenieur in den Stollen eines Steinbruchs geführt, um einen rätselhaften Fund gezeigt zu bekommen. Man löscht das Licht, und nun beginnt ein Teil des Marmors in psychedelischen, außerirdischen Farben zu leuchten.

Angesichts von Manuele Fiors Rang ist es zu begrüßen, dass man diesen verstreut publizierten Geschichten nun nicht mehr einzeln hinterherjagen muss. Etwas für Kenner ist "Die Tage der Amsel" allerdings schon - und schürt die Erwartung auf eine neue große Graphic Novel, die den Maßstäben, die Fior mit seinen drei Meisterwerken gesetzt hat, gerecht werden kann.

Manuele Fior (Text und Zeichnungen): Die Tage der Amsel. Aus dem Italienischen von Carola Köhler. Avant-Verlag, Berlin 2018. 104 Seiten, 22 Euro.

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