Bildband:Von Quallen und Menschen

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Ein Buch mit den Naturstudien des Wissenschaftspioniers Ernst Haeckel, der auch der Rassenlehre der Nationalsozialisten den Weg bereitet hat.

Von Michaela Metz

Anfang des 20. Jahrhunderts, als der Jugendstil mit seinen von der Natur inspirierten Ornamenten begeisterte, nahm der junge Biologe Ernst Haeckel die unscheinbarsten Kreaturen der Natur unter die Lupe: Quallen, Schwämme und Strahlentierchen, die er im Mittelmeer fand. Runde, sternförmige, schwerelos anmutende Wesen; manche gleichen futuristischen Raketenspitzen oder Miniaturmonstern. Unter dem Mikroskop wandelten sich diese simplen Organismen zu schillernden Kunstwerken, die der sechseinhalb Kilo schwere Prachtband "Kunst und Wissenschaft Ernst Haeckels" nun neu darbietet. Essays über Haeckels "Kunstformen der Natur" und "Evolution der modernen Kunst" und wunderschöne farbige Abbildungen stellen darin überraschende Bezüge zur modernen Kunst und Wissenschaft her.

Bei der bis zu hundertfachen Vergrößerung der Quallen und Medusen half Haeckel der Optiker Carl Zeiss in Jena mit damals modernsten Mikroskopobjektiven. Eine der Zeichnungen, die so entstanden, zeigt die "Desmonema annasethe", eine Qualle mit feinen gelben Tentakeln, die Haeckel an das lange blonde Haar seiner ersten Frau Anna erinnerten. Später benannte er noch eine andere Meduse nach ihr. Er zeichnete sie mit blauen und goldenen Rüschen, ihren Schirm formte er gleich einer riesigen tropischen Blüte und ihre Tentakel fließen wie Frauenhaar über das ganze Blatt. In dem Band "Kunstformen der Natur" wurde die schillernde Meduse zum Star. Sogar sein Haus in Jena, die "Villa Medusa", schmückte der Naturforscher mit quallenförmigen Ornamenten aus Stuck.

Haeckel arbeitete am liebsten auf schwarzem oder türkisfarbenem Grund und in leuchtenden Aquarellfarben in Rot, Orange oder Gelb. Seine Zeichnungen wurden zur Anregung für zahlreiche Maler und bildende Künstler. Gustav Klimts Gemälde "Wasserschlangen" etwa ist inspiriert von Haeckels mikroskopischem Blick in die faszinierende Unterwasserwelt. Auch Wassily Kandinsky und Edvard Munch übernahmen Motive aus den Schaubildern des Forschers, der bis heute einflussreich ist: Sogar Videospiele wie der Grusel-Shooter "Dead Space" von 2008 ließen sich von Haeckels Universum inspirieren. Mit seinen Kunstformen einer ästhetisierten Natur brachte Haeckel außerdem die Philosophie mit der Biologie in Kontakt - und nicht nur das: Natur war ihm etwas Beseeltes. Und im Gegensatz zu anderen Forschern seiner Zeit wandte er sich damit bewusst auch an ein Laienpublikum. Sein Buch "Die Welträtsel" verkaufte sich in 400 000 Exemplaren und wurde in knapp 30 Sprachen übersetzt.

Nach und nach rankten sich Haeckels kunstvoll gezeichnete Unterwasserwelten in Europas Städte hinein, auf Plätze und Fassaden und in die Museen. Für die Weltausstellung zur Jahrhundertwende in Paris errichtete der Architekt René Binet an der Place de la Concorde die "Porte Monumentale". Das Tor war mit Tausenden Glühbirnen besetzt und wurde mit farbigem Licht angestrahlt. Mit diesem riesenhaft vergrößerten Strahlentier kehrten die Besucher der Weltausstellung symbolisch an den Anfang der Evolutionsgeschichte zurück.

Auch biologische Gesetze, die bis heute in der Schule gelehrt werden, stammen aus der Feder des Forscherfreigeistes: "Die Entwicklung des Individuums ist eine kurze und schnelle Wiederholung der Entwicklung seiner Vorfahren." Genüsslich wies er darauf hin, die herrschenden Klassen könnten unangenehm berührt sein, wenn sie erführen, dass sich Adlige ebenso wie die Menschen bürgerlichen Standes in den ersten beiden Monaten ihrer Entwicklung kaum von den geschwänzten Embryonen eines Hundes unterscheiden.

Mit seinen Theorien zum Menschen befeuerte er den Rassismus und die Sklaverei

Aus dem Versuch, den Artenbegriff auf den Menschen zu übertragen, gingen dann allerdings Rechtfertigungen von Sklaverei und Rassismus hervor. Anhand der Kopfformen des Menschen meinte Haeckel feststellen zu können, dass etwa Australiens Aborigines nur knapp über dem Entwicklungsstand der Affen stünden, wohingegen der weiße Europäer auf seiner Schautafel ganz oben steht. Er gehört zu den wissenschaftlichen Wegbereitern der Rassenhygiene.

Haeckel war ein spekulativer Kopf, den es mit seinen Ideen weit hinaus in unsicheres Gelände treiben konnte: Einerseits werde der Schöpfer menschenähnlich gedacht, nämlich einen Plan ausführend, behauptete er, andererseits als ein gasförmiger, also organloser Körper. Bald sprach sich herum, Haeckel habe behauptet, Gott sei ein gasförmiges Wirbeltier. Ein Professor für Kirchengeschichte schrieb: "Meine ganzen Ausführungen sind ehrverletzend für Professor Haeckel und sollen es auch sein." Nichtsdestoweniger bleibt nicht nur die Ästhetik seines Werkes bis heute bedeutend. So genau und empathisch beschrieb, analysierte und zeichnete er so zarte Geschöpfe wie Medusen und Kalkschwämme, dass sie der Wissenschaft noch heute dienen können.

Rainer Willmann, Julia Voss: Kunst und Wissenschaft Ernst Haeckels. Taschen, Köln 2017. 704 Seiten, 150 Euro.

© SZ vom 19.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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