Berlinale: Gewinnerfilme:Selbstmitleid des Wohlstandsbürgertums

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Die wahre Krise ist anderswo: Die Berlinale endet mit einem Goldenen Bären für Peru und die Wirtschaftskrise erscheint beinahe lächerlich.

Tobias Kniebe

Als der Hauptpreis vergeben, der Goldene Bär für Peru in die Höhe gereckt, der Jury artig gedankt ist, folgt ein symbolischer Moment. Die Schauspielerin Magaly Solier tritt ans Mikrophon und wechselt vom Spanischen ins Quechua, die indigene Sprache des Andenraums. Darauf ist niemand vorbereitet, die Synchronübersetzung verstummt, die ganze eurozentrische Weltkinoinszenierung der Berlinale kommt für einen Moment zum Stillstand. Die Worte, die Solier dann spricht, klingen dringlich und äußerst kämpferisch; zum Schluss singt sie ein kurzes, offenbar improvisiertes Lied. Und so rätselhaft dieser Augenblick ist, so perfekt funktioniert er dann doch als Abschlussbild der 59. Berlinale.

Augen, die die Berlinale-Jury faszinierten: Magaly Solier in "La teta asustada", dem Gewinner des Goldenen Bären. (Foto: Foto: afp)

Denn natürlich ist gerade nicht die Berlinale zur Krise geworden. Einmal deshalb, weil ein mit deutschen Premieren überfülltes Sonderprogramm und der neue Großraum-Spielort Friedrichstadtpalast den Publikumszustrom stark nach oben getrieben haben - es wurden 30 000 Karten mehr verkauft als im vorigen Jahr. Zum anderen aber auch inhaltlich nicht, obwohl Festivalchef Dieter Kosslick wieder die thematische Nähe zur Krise beschworen hatte. Gottseidank, kann man nur sagen - je näher die Filme einem direkten oder aktuellen politischen Kommentar kamen, wie Kosslick ihn wohl wünschte, desto fragwürdiger wurden sie meist auch, mit dem heimischen Kompilationsdesaster "Deutschland 09" als traurigem Höhepunkt.

Der Auftritt von Magaly Solier dagegen beschwört eine Welt jenseits westlicher Befindlichkeiten und Korrektheitsüberlegungen, jenseits eines neuen, globalisierten Selbstmitleids des Wohlstandsbürgertums. Der Schmerz und der Kampf, von dem sie und ihre Regisseurin Claudia Llosa in ihrem Siegerfilm "La teta asustada / Die Milch des Leids" erzählen, ist älter, archaischer als aktuelle Kinotrends, erschließt sich nicht mehr allein über Worte und Formeln der Verarbeitung. Es ist mehr Ahnung als Gewissheit, was da in einer traurigen, poetischen Melodie erklingt. Und genau da fängt die politische Kraft des Kinos doch eigentlich erst an.

"Viele ganz unterschiedliche Stimmen, aber eine einstimmige Entscheidung", so erklärt Jurypräsidentin Tilda Swinton diesen Hauptpreis, sichtlich stolz, aus so verschiedenen Charakteren wie Henning Mankell und Christoph Schlingensief eine Einheit geschmiedet zu haben. Für die restlichen Gewinner gilt diese Einstimmigkeit dann aber sicher nicht mehr - da werden gleich zwei Preise noch einmal ex aequo geteilt.

Angestrengte Suche nach Gemeinsamkeiten

Dabei bestätigt sich einmal mehr der fast schon sichere Zugriff, den deutschsprachige Schauspielerinnen inzwischen auf den Darsteller-Bären haben - diesmal gewinnt ihn Birgit Minichmayr für ihr facettenreiches Frauenporträt in dem Beziehungsfilm "Alle anderen", für den ihre Regisseurin Maren Ade ebenfalls ausgezeichnet wird. Weitere Silberbären gehen an den iranischen Regisseur Asghar Farhadi für "Darbareye Elly / Alles über Elly" und an den argentinischen Debütanten Adrián Biniez für "Gigante", der auch den Erstlings- und Innovationspreis gewinnt. Die Suche nach Gemeinsamkeiten kann hier schnell angestrengt wirken - aber es lässt sich doch feststellen, dass diese Filme eher versteckte als offensichtliche Analysen ihrer jeweiligen Gesellschaften sind, die darum aber nicht weniger scharf ausfallen können.

Bei Ade und Farhadi zeigen sich deutsche und iranische Befindlichkeiten gerade in Momenten des Rückzugs, im Urlaub in Sardinien bzw. am Kaspischen Meer. Die leicht gezwungene Unbeschwertheit des jeweiligen Beginns enthält dabei schon eine Vorahnung des folgenden Unheils, der realen oder auch nur emotionalen Katastrophen, die dann geschehen. Hier liegt die Klugheit der Filmemacher darin, dass sie auf mehreren Ebenen zugleich erzählen, dass sie dabei sogar Unsicherheiten zulassen, was ihren eigenen Standpunkt betrifft. Nur Adrián Biniez, der in der videoüberwachten Arbeitswelt eines Riesensupermarkts eine Romanze ansiedelt, die recht einseitig lange Zeit nur über flackernde Monitore hinweg imaginiert wird, wirkt in dieser Gesellschaft etwas harmlos. Der Darstellerbär für den riesenhaft hageren afrikanischen Schauspieler Sotiguy Kouyate, der in Rachid Boucharebs "London River" stoisch um seinen bei den Londoner Terroranschlägen getöteten Sohn trauert, passt dann aber wieder perfekt zu dem viel weiter gespannten, überzeitlichen menschlichen Drama, das auch der Siegerfilm thematisiert.

Eine Krise tieferer Art

Die Berlinale zieht damit Energie und Relevanz gerade nicht aus den westlichen Kalamitäten des Augenblicks, sondern viel eher aus einer immerwährenden Krise tieferer Art, aus dem Schicksal der Dritten Welt. Bei "La teta asustada" sind das die jahrzehntelangen Terrorkämpfe zwischen peruanischen Maoistenrebellen und Regierungstruppen, mit ungezählten Morden und Vergewaltigungen. Das Festival nimmt das, gibt jedoch auch etwas zurück: globale Aufmerksamkeit zum Beispiel, ein Versprechen von Selbstverwirklichung und künstlerischer Freiheit. Diesen stets fragilen Austausch, der so leicht in Ausbeutung umkippen kann, macht "La teta asustada" gleich in mehrfacher Hinsicht selbst zum Thema.

Symptomatisch dafür ist auch das Verhältnis von Regisseurin und Hauptdarstellerin: die eine die 32-jährige Nichte des Schriftstellers Mario Vargas Llosa, in Spanien ausgebildet, ganz Oberschicht; die andere aus einem Siebzig-Einwohner-Dorf in jener Provinz Perus, die am heftigsten unter dem Terror gelitten hat, mit achtzehn Jahren von ihrer Regisseurin auf dem Markplatz entdeckt, natürlich auch wegen ihrer atemberaubenden Schönheit. Zusammen haben sie schon den Film "Madeinusa" gedreht, über ein magisch-realistisches Dorffest, und auch jetzt ist es wieder Soliers Gesicht, das "La teta asustada" trägt.

Man folgt ihm fasziniert, auch wenn gleich in den ersten Minuten eine sterbende Frau von den Penissen der Vergewaltiger singt, die ihr ungeborenes Kind spüren musste, vom abgeschnittenen Glied ihres Mannes, das die Soldaten ihr in den Mund stopften. Genau um diese Härte geht es auch: Weil die Poesie hier gerade kein Mittel ist, die Welt erträglicher, das Drama konsumierbarer zu machen. Sondern weil dieses Kino noch immer beharrlich daran arbeitet, das Unsagbare aufzuspüren - und in seine ganz eigene Sprache zu überführen.

© SZ vom 16.2.2009/holz - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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