Album "Coexist" von "The xx":In einer schönen Nische

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Mit Hochspannung wurde das neue Album von "The xx" erwartet. Nun ist klar: Das Londoner Trio bleibt mit "Coexist" ein Kraftzentrum des Pop. Denn zwischen all dem Schrillen und Überladenen auf Maximallautstärke klingt diese Musik "wie ein schwach belichtetes Foto".

Jan Kedves

R&B ist aktuell das Kraftzentrum des Pop. Nicht so sehr, weil die Technostampfereien, die David Guetta und Calvin Harris für Rihanna oder Usher produzieren, im weiteren Sinne zum Genre gehören, sondern weil man Diverses zusammenzählen muss: Frank Ocean hat im Sommer mit "Channel Orange" eines der besten R&B-Alben der letzten Jahre veröffentlicht; Sänger wie The Weeknd und How To Dress Well vereinen - obwohl nicht annähernd so talentiert wie Ocean - große Fangemeinden auf sich; die globalen Popinformationsdienste lassen ein Begeisterungsdonnerwetter nieder, wenn ein neuer Song des kanadischen Rappers Drake mit bislang unbekannten Gesangsspuren der 2001 tödlich verunglückten Aaliyah erscheint und dazu fälschlicherweise das Gerücht die Runde macht, es werde bald auch ein ganzes postumes Album der R&B-Sängerin geben.

The xx - ein Klang wie ein schwach belichtetes Foto. (Foto: Alexandra Waespi/Beggars Group)

Womit wir bei The xx wären, denn sie gehören ebenfalls in diese Rechnung. Zwar denkt man bei dem Londoner Trio nicht unmittelbar an die einst aus kollektiver Diaspora-Erfahrung und Momenten der Verzweiflung geborene afroamerikanische Tradition der Herzausschüttung zu schwerer Percussion, sondern an The Cure und andere im Schwarz der Gothics gekleidete Bands der Achtziger. Aber das liegt eben am Look. Die britischen Musikjournalisten, die das 2010 mit dem Mercury Music Prize bedachte Debütalbum, "xx", mit dem Label "Gothic Soul" bedachten, hatten absolut recht: Romy Madley Croft und Oliver Sim, die Duettpartner von The xx, mochten sich von introvertiertem Shoegaze-Pop haben beeinflussen lassen, gesanglich war in ihren zurückgenommenen Melismen, Vibrati und Seufzern aber vor allem ein Soul-Einfluss hörbar. Nicht zuletzt ist Soul ein Ableger von Rhythm & Blues.

Er performt nicht, er redet nicht gerne

Der Wirkungsradius von "xx" und seiner Hits "Crystalised" und "Shelter" ist beeindruckend: Allein in Deutschland verkaufte das Album 90 000 Kopien, weltweit waren es drei Millionen. Rihanna ließ, in einem raren Moment der Nicht-Stampfigkeit, den Song "Intro" für ihre Ballade "Drunk on Love" sampeln. Drake erklärte sich ebenfalls zum Fan und hörte sich ganz genau "We're New Here" an, das Album, für das Jamie xx, der Produzent von The xx, im vergangenen Jahr Gil Scott-Herons gesamte letzte LP "I'm New Here" raffiniert in elektronische Dubs überführte. So kam "Take Care" zustande, Drakes Hit aus dem letzten Jahr: Er sicherte sich ein bluesiges Klavier- und Gitarrenthema aus "We're New Here" und schrieb Jamie xx in die Produzentencredits des Songs. Richard Russell wiederum, Chef von XL Records, wo The xx unter Vertrag stehen, und zugleich Produzent der Gil-Scott-Heron-LP, erklärte, "xx" habe deren Entstehungsprozess stark beeinflusst. Während man sich also noch wunderte, wie ein Newcomer aus London überhaupt an die New Yorker Spoken-Word-Legende kommt, steckte schon in der Originalversion eine Menge "xx".

Kein Wunder, dass das zweite The-xx-Album mit Hochspannung erwartet wurde - und jetzt, wo "Coexist" erschienen ist, kann man ohne Probleme sagen: Die Band bleibt ein Kraftzentrum des Pop, und Jamie xx bleibt das Kraftzentrum der Band. Der 23-Jährige, geboren als Jamie Smith, singt nicht, er performt nicht, er redet nicht gerne, er bringt lediglich - aber das ist das Entscheidende - den heruntergedimmten "inner city blues" seiner Bandkollegen zum Glänzen, mit einem Feingefühl für Lücken, schwelende Trommelwirbel und Hall. Anders gesagt: Könnte man der Direktheit und Verletzlichkeit, die Romy Madley Croft und Oliver Sim gesanglich an den Tag legen, während sie an Gitarre und Bass immer noch ein bisschen so tun, als würden sie dilettieren, allein eventuell bald überdrüssig werden, gelingt es Smith, gerade mal so viel elektronischen Kniff zu addieren, dass man das Ergebnis aufgrund seiner ergreifenden Nacktheit lobt, obwohl es ohne sein Zutun noch nackter wäre.

Bis Adele klang wie ein Mann

Trifft man dieses junge Studiogenie, fällt weniger Smiths kolportierte Schüchternheit auf, sondern vor allem, wie absolut klar er zwischen The xx und Jamie xx trennt: Bei The xx würde er beispielsweise nie den Gesang verfremden, das würde dem Ziel der Intimität widerstreben. Außerhalb von The xx spiele er aber sehr gern mit Stimmen herum, im Grunde höre er nie auf Texte, sondern betrachte Gesang als Instrument. Wie genau er das meint, machte im letzten Jahr sein Remix für Adeles "Rolling in the Deep" deutlich: Da transponierte er den Gesang zu Hip-Hop-Beats stellenweise drei Oktaven tiefer, bis Adele klang wie ein Mann.

Auf "We're New Here", dem Remixalbum für Gil Scott-Heron, erlaubte Smith sich nicht nur musikalische, sondern auch textliche Eingriffe. Er kopierte eine Zeile aus "Home Is Where the Hatred Is" aus dem Jahr 1971 und stellte sie in den Kontext Scott-Herons neuer Lyrics: "Hang on to your rosary beads / Close your eyes to watch me die". Das mochte man als Ausdruck einer Vorahnung interpretieren, immerhin starb Scott-Heron wenige Monate nach Veröffentlichung der Platte. Doch Smith verneint. Er habe die Zeile nicht deswegen verwendet. "Gil liebte sie, und ich liebe die Art, wie dort seine Stimme klingt. Als Gil und ich uns trafen, war es ganz offensichtlich, dass er in keiner guten gesundheitlichen Verfassung war. Trotzdem hatte er noch mehr Funkeln in den Augen als die meisten gesunden Menschen, die ich bis jetzt getroffen habe."

Als Kind bekam Smith von seinen Eltern bereits Gil Scott-Heron vorgespielt. Für Musikproduktion begann er sich aber erst mit elf, zwölf Jahren zu interessieren, nachdem er das Album "Double Figure" von Plaid gehört hatte, komplexe elektronische Frickelmusik vom Warp-Label. Mittlerweile ist er ein viel gebuchter DJ und legt, neben neuesten Dubstep- und alten House-Scheiben, ohne mit der Wimper zu zucken Singles von Toni Braxton auf, die man just in diesem Moment als zu Unrecht übersehene Meisterwerke des R&B erkennt ("Take This Ring").

Wenn er über seine Arbeit mit The xx redet, verwendet Smith häufig das Wort "threesome" - und lässt es bewusst in seiner Vieldeutigkeit zwischen Dreiergruppe, Dreiecksgeschichte und flottem Dreier oszillieren. Dahinter steckt Konzept: Die Präsentation ist darauf angelegt, ein Rätselraten über die libidinösen Dynamiken innerhalb der Band anzuzetteln. Auf Pressefotos lehnt mal Oliver Sim seinen Kopf an den von Romy Madley Croft, mal liegt Jamie Smiths Kopf auf Sims Schulter, während Madley Croft im Abseits steht. The xx wollen die Lesart unterlaufen, die sich aufdrängt, sobald sich ein Junge und ein Mädchen im Duett ansingen. Madley Croft begehrt privat Frauen, das ist kein Geheimnis, Oliver Sim soll schwul sein, es heißt, er habe aber aufgehört, darüber zu reden.

Eine schöne Nische

Bei The xx wird also nicht alles ausgeleuchtet, und Jamie Smiths Soundkonzept korrespondiert perfekt mit diesem Ziel. "Unsere Musik soll klingen wie ein schwach belichtetes Foto", erklärt er. "Dieses Foto zeigt letztlich dasselbe wie ein grell beleuchtetes, aber einige Elemente bleiben im Verborgenen." Natürlich weiß er genau, dass die meiste Popmusik, auch der meiste R&B, heute andersherum funktioniert: Alles klingt schrill, überladen und ist mit Kompressoren auf Maximallautstärke gepumpt. "Deswegen gibt es ja eine schöne Nische für The xx", lacht Smith.

Wie lange kann es dauern, bis sich die ganze Welt um diesen Produzenten reißt und er in Interessenskonflikte gerät? Auf "Coexist" schafft Smith es sogar, den Sound der karibischen Steeldrum, der das Gegenteil von Abgedunkeltheit vermittelt und der im Dancepop der letzten Jahre, nicht zuletzt beim schwedischen Duo The Knife, omnipräsent war, so dezent einzuweben, dass er nicht unpassend, sondern wie selbstverständlich herangeweht wirkt - das Stück "Reunion" ist einer der größten Pop-Momente des Albums.

Parallel zur neuen The-xx-Tour arbeitet Smith, so lässt er durchblicken, mit einem Star des amerikanischen R&B zusammen, mit wem, will oder darf er nicht verraten. Was also würde passieren, wenn morgen auch noch Beyoncé anriefe und eine Portion Gothic Soul bei ihm bestellte? "Für Beyoncé würde ich jederzeit alles stehen und liegen lassen, Ollie und Romy hätten dafür auch immer Verständnis", sagt Jamie Smith - und schaut dabei nicht aus wie jemand, den zurzeit noch irgendetwas überraschen kann.

© SZ vom 10.09.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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