SZ-Werkstatt:Tränen und Sudoku

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Eine Woche lang hat SZ-Reporter Martin Wittmann im Kriminalgericht Moabit der Justiz bei der Arbeit zugeschaut.

Von Martin Wittmann

Das größte Strafgericht Europas ist für Journalisten schon deshalb interessant, weil diese den Superlativ lieben. Das elftgrößte Gericht der Welt, wo immer es auch sein mag, wäre womöglich auch spannend; als Titel ist es aber sehr unspektakulär. Die Zahlen, die dem Kriminalgericht Moabit in Berlin zu seinem Rekord verhelfen, sind wirklich beeindruckend: Insgesamt 2000 Menschen arbeiten hier, davon 300 als Richter und ebenso viele als Staatsanwälte; bis zu 300 Verhandlungen finden täglich statt.

Tatsächlich wirken die nackten Zahlen fast so abstrakt wie die Justiz selbst. Die Institution ist kaum greifbar für Laien, sofern sie noch keine Erfahrung sammeln konnten als Zeuge, Schöffe, Angeklagter oder Gerichtsreporterin (es sind tatsächlich vor allem Frauen). Man muss sich schon hineinbegeben in das Kriminalgericht an der Turmstraße in Moabit, diesem elftschönsten Stadtteil Berlins.

Der Zugang ist denkbar einfach: Wer seinen Ausweis vorzeigt und wie am Flughafen gürtellos durch den Metalldetektor geht, kann danach beliebig zwischen den Sälen wechseln (Ausnahme: die nicht öffentlichen Verhandlungen) und von einem Drama zum nächsten wandern. Auf den Besucherbänken sitzt man neben: Verwandten von Tätern wie von Opfern, die vereint sind in der Hoffnung auf ein befriedigendes Urteil; Voyeuren, für die das Schauspiel eine Art True Crime ist; Berliner Gerichtsreporterinnen, die im Gegensatz zu dem fachfremden Kollegen aus München genau wissen, wann es zuzuhören gilt und wann es Zeit fürs mitgebrachte Sudoku ist; Studenten, die der Urteilsfindung zuhören müssen; und besorgten Bürgern, die dem Rechtsstaat auf die Finger schauen möchten. Dabei entdecken die einen Samthandschuhe, wo andere eine Faust sehen. Gerechtigkeit, das lernt man in dieser Woche in Moabit, über die im heutigen "Buch Zwei" berichtet wird, ist tatsächlich eine äußerst persönliche Angelegenheit.

© SZ vom 09.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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