SZ-Werkstatt:Hans Kratzer

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Hans Kratzer, sozialisiert in einer Gemengelage aus Wirtshaus, Landwirtschaft, Metzgerei und Getränkehandel, beobachtet die Phänomene des bayerisch-ländlichen Existenzialismus seit der Kindheit und seit 1992 für die SZ. (Foto: N/A)

findet als Reporter für das Bayern-Ressort oft die besten Geschichten im bilderreichen Hinterland. Wie etwa die vom Pizzeria-Wirt, der ein begnadeter Porträtfotograf ist.

Von Hans Kratzer

Vor Jahren hatte eine Kolumnistin im Spiegel kundgetan, man möge eine Mauer rund um Bayern errichten, um das Provinzielle und Kleingeistige dieses Landes von Deutschland fernzuhalten. Diese Äußerung war von kerniger Art. Überhaupt ist es im Norden der Republik ein beliebter Brauch, über die Sitten und Gebräuche des südlichen Bruderstaats mit scharfer Klinge zu richten. Eine existenzielle Frage für einen Journalisten am Fuße der Alpen lautet also, warum dieser Freistaat so anders und so widerspenstig ist.

Als ältester Staat Europas quillt Bayern vor Geschichte und Traditionen fast über. Wer nie die Gnadenkapelle in Altötting betreten hat, wird das Wesen der Eingeborenen nie verstehen. Wundersames geschieht auch in den Gasthäusern. Vorige Woche erst haben wir im Bayerischen Wald den Wirt einer Pizzeria getroffen, der ein begnadeter Porträtfotograf ist. Bayern ist nicht nur die Bilderbuchregion südlich von München. Die besten Geschichten finden sich im Hinterland, wo es brodelt, kracht, manchmal auch stinkt. Wo man auf Bierfahrer, Einödbauern und Lebenskünstler trifft, die oft mehr vom Leben wissen als die Gelehrten. Freilich sollte er die Sprache der Einheimischen sprechen und wissen, dass er einen verstockten Stammtisch erst zum Reden bringt, wenn er ihm eine Runde Schnaps spendiert.

Nicht die Zumutungen prägen dieses Land, sondern die Gegensätze, die vom gestylten Publikum der Münchner Hochkultur bis hin zur schweigsamen Kleinbäuerin reichen, die die Alpen nur deshalb kennt, weil der Föhn sie bei der Feldarbeit nah an sie heranträgt. Doch nagt an diesem bilderreichen Kosmos der Verlust. Jeden Tag verschwinden Häuser und Landschaften, die der Region ein unverwechselbares Gesicht geben. Der stetige Begleiter eines Bayern-Reporters ist die Melancholie des Vergehens.

© SZ vom 04.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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