Ostdeutschland:Betrug und Selbstbetrug

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Warum haben so viele ostdeutsche Wähler ihr Kreuz bei der AfD gemacht? Jens Bisky hat sich darüber jüngst in einem Essay und einem Leitartikel seine Gedanken gemacht. Leser setzen sich hier damit auseinander.

"Wostdeutschland" und "Zwei Billionen sind nicht genug" vom 2./3. Oktober sowie "Schweigen und Gebrüll sind Geschwister" vom 27. September:

Wenn nichts mehr verlässlich ist

In Jens Biskys Leitartikel "Wostdeutschland" spiegelt sich nur einmal mehr die allgemeine Ratlosigkeit über die Hintergründe des AfD-Wahlerfolgs wie über die Aussichten, diesem künftig wirksame Arzneien entgegensetzen zu können.

Dass im Osten mit der Wende vielen der gewohnte Boden unter den Füßen weggezogen wurde, erklärt gewiss mit, warum die AfD regional dort besonders punktete. Gravierender sind jedoch die Folgen für Parteien und deren Politiker, die sich aus der fortschreitenden Erosion der gesamten Gesellschaft sowohl im Osten wie im Westen ergeben.

Aus nach rein betriebswirtschaftlichen Interessen von Unternehmen freigesetzten Arbeitnehmern und sich selbst von Verbünden, Vereinen und Familien befreiten Individuen erwächst eine inzwischen signifikante Masse haltlos gewordener, marodierender und sich permanent neu orientierender Personen, die einer Gesellschaft nicht nur an Wahltagen Stempel aufsetzen. Von aus Verantwortungen Entlassenen oder sich daraus selbst Entfernten nun Verlässlichkeiten und Orientierungen zu erwarten, die über Bauchgefühle eines (Wahl-)Tages hinausreichen, verführt zum Selbstbetrug.

Wer bei diesem Personenkreis als Politiker auf konkrete und zugleich realistische Zukunftsvisionen setzt, steht dort weitgehend auf ebenso verlorenem Posten wie derjenige, der eine bereits innen atomisierte Gesellschaft durch äußere Abschottungen wieder zu festigen verspricht - zumal dann, wenn der dafür erzeugte Dampf in Wahrheit nur der Stabilität der eigenen Partei dienen soll.

Wer als Politiker Freigesetzte der modernen Gesellschaft erreichen will und dafür mit hinreichend großer Skrupellosigkeit begabt ist, könnte geneigt sein, das Erscheinungsbild seiner Partei allein am perfekten Aussehen, der Choreografie und am Gesang vom "Schmetterlihhing" einer Helene Fischer zu orientieren. Man darf gespannt sein, welche Parteien sich dieser Versuchung auch künftig verweigern werden. Klaus Dieter Edler, Hannover

Positiver sein

"Integriert und vergessen" und "Der kühle Blick" vom 30. September/ 1. Oktober: Kann es sein, dass die AfD-Wähler auf ein Defizit hinweisen, das die anderen Parteien und die Presse oft ignoriert haben, aus Angst vor den Gefahren des Nationalismus? Den haben wir hoffentlich hinter uns. Aber brauchen wir nicht einen Patriotismus, der die eigene Geschichte, Kunst, Tradition etc. positiv darstellen kann - ohne die Schrecken des 20. Jahrhunderts zu negieren. Andere Länder, zum Beispiel Frankreich, tun sich leichter, positiv zu ihrem Land zu stehen. Ist es möglich, ohne übersteigerten Selbstwert patriotisch deutsch zu sein, gemäß dem Motto von Wolf Biermann: "Nicht über und nicht unter andren Völkern wolln wir stehn ..."? Dorothea Schmeißner-Lösch, Nürnberg

Es war einmal...die SPD

In der sehr treffenden Analyse "Schweigen und Gebrüll sind Geschwister" fehlt eine Schlussfolgerung, die sich geradezu aufdrängt. Der Autor vermisst für den gesellschaftlichen Aufbau der ostdeutschen Länder ein attraktives liberales Gegenangebot!? In unserer Parteienlandschaft gab es das Jahrzehnte lang! Bis es dann schick wurde, einen Kanzler zu stellen, der auch mit den Bossen konnte.

Aber die Wurzel, aus der sich auch das heutige Selbstbewusstsein der SPD immer noch speist, liegt zum Beispiel in der Arbeit für ein würdevolles Leben von abhängig Beschäftigten, für gleichberechtigten Zugang zu Bildungsangeboten oder für die Unterstützung der Schwachen in einer modernen Gesellschaft. 20 Jahre hat die Partei ihre eigentliche Klientel vergessen beziehungsweise mit der von ihr transportierten Politik vielen Anhängern den Rücken gekehrt. Das führte zu mangelnder Unterstützung, Parteiaustritten und letztlich Verdruss und Unmut, besonders in den ostdeutschen Ländern.

Die gesellschaftliche Befriedung der Gesellschaft in den ostdeutschen Ländern ist selbstverständlich eine Aufgabe aller Parteien, liegt aber meines Erachtens in besonderem Maße in der Pflicht und im Interesse der SPD. Roger Buchwald, Hildesheim

Das gab es auch im Westen

"Genauere Analysen und Begriffe", warum "arme Ossis...so enttäuscht und frustriert" sind, will Jens Bisky liefern. Er hat schon mal zwei Worte als des Rätsels Lösung: "Verweigerung" und "Enthemmung". Welche von beiden "Analyse" sind oder nur "Begriffe" - das zu entwirren überlässt er ebenfalls dem Leser. Er schreibt von "Gewaltgeschichten", die angeblich für das Erstarken der AfD und rechter Tendenzen in der ehemaligen DDR verantwortlich seien nennt als Beispiele Rostock-Lichthagen, den Amoklauf in Erfurt oder die neun toten Babys in Frankfurt/Oder.

Dass es solche oder ähnliche Vorfälle in den westlichen Bundesländern ebenfalls gab, ich nenne hier nur die Anschläge im Mai 1993 in Solingen (fünf Tode) und im Oktober 1992 in Mölln (drei Tode), die toten Babys von Wallenfels, die Wehrsportgruppe Hoffmann, den Anschlag auf das Oktoberfest in München oder den Amoklauf von Winnenden, wird einfach unterschlagen. Was unterscheidet diese Vorfälle von denen im Osten?

Mit seiner einseitigen Schuldzuweisung liefert Bisky Wasser auf die Mühlen der AfD. Peter Herrmann, Berlin

Ablehnung des Neoliberalismus

Von moralisierenden Erklärungsmodellen zum Rechtsextremismus (meistens als "Rechtspopulismus" bezeichnet) halte ich wenig. Sie machen es viel zu leicht, über gesellschaftlich-ökonomische Ursachen desselben hinwegzusehen. In "Schweigen und Gebrüll sind Geschwister" bietet Jens Bisky ein ebenso komplexes wie vages soziologisches Erklärungsmodell zum Phänomen des ostdeutschen Pegidamannes an. Statt eines solchen möchte ich eine ganz schlichte Überlegung anbieten, die konkret auf die gesellschaftlich-ökonomischen Ursachen zurückkommt und exakt auf Ostdeutschland zugeschnitten ist: In der DDR gab es viele Probleme. Angst vor Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit, schärfste soziale Ausgrenzung Arbeitsloser, Drangsalierung Bedürftiger durch die ARGE und dauerhaft prekäre Arbeitsverhältnisse sind allerdings Spezifika des Lebens in der Bundesrepublik. Zudem bestanden in der DDR weniger ausgeprägte soziale Ungleichheiten, die für Neiddiskussionen instrumentalisiert werden konnten. Mich wundert es daher überhaupt nicht, dass Menschen, die noch eine mehr oder weniger gute Erinnerung an eine sozial abgesicherte Existenz haben, mit totaler Ablehnung auf neoliberale Verhältnisse reagieren. Dr. Florian Haymann, Montabaur

Allen zuhören

"Sind zwei Billionen Euro nicht genug?", fragen sich Westdeutsche, wenn sie die Klagen aus den östlichen Bundesländern hören. Die Ostdeutschen beteuern, ihnen gehe es nicht ums Geld, sondern vielmehr um Anerkennung. Ihre Lebensleistung werde nicht ausreichend gewürdigt, sie fühlten sich unverstanden und abgehängt. Wie soll denn die Würdigung der Lebensleistung aussehen, die sich die Ostdeutschen erwarten und von wem soll sie kommen? Man müsse den Leuten endlich einmal zuhören, rät eine ehemalige SED-Funktionärin in einer TV-Sendung. Wer soll denn den Ostdeutschen zuhören? Politiker, Westdeutsche oder gar die Kanzlerin? Als Westdeutscher, der bis zu seinem 65. Lebensjahr gearbeitet und seit der Wiedervereinigung brav den Soli bezahlt hat, frage ich mich, wer meine Lebensleistung würdigt und mir zuhört. Auch in den alten Bundesländern gibt es Leute mit einer knappen Rente. Allerdings haben die vierzig und mehr Jahre ihre Rentenbeiträge bezahlt, während Rentner aus dem Osten oft keinen Beitrag zur Finanzierung der Rente geleistet haben. Josef Geier, Eging

© SZ vom 07.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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