Große Koalition:Zeit des Nichtaufbruchs

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Wohin soll sich die SPD wenden? Richtung große Koalition oder gegen ein weiteres Regierungsbündnis mit der CDU/CSU? Leser sind nach den abgeschlossenen Sondierungen skeptisch, was die Leistungsfähigkeit eines solchen Bündnisses anbelangt.

Wohin soll ich mich wenden? SPD-Chef Martin Schulz nach den Sondierungen zur großen Koalition. (Foto: Getty Images)

"In Trippelschritten", "Halb zehn in Deutschland" und "So kann es gehen" vom 13./14. Januar:

Alter Wein

Deutschland stagniert; zwar noch auf einem relativ hohen Niveau, aber dies wird sich zunehmend ändern. Denn Umweltschutz und Klimawandel, Infrastruktur und Digitalisierung, Sozial- und Gesundheitspolitik für eine alternde Gesellschaft erfordern heute progressive Lösungskompetenz und nachhaltiges Handeln. Die Welt wartet nicht auf uns, in der Tat. Bleibt es aber, und danach sieht es nach Abschluss der Sondierungen zwischen Union und SPD entgegen vorherigen Bekundungen der Protagonisten aus, im Großen und Ganzen bei dem bisherigen "Weiter so in kleinen Schritten", dann wird uns alter Wein in alten Schläuchen vorgesetzt, dann werden die Merkel'schen Regierungsjahre endgültig zu einer Zeit des gewöhnlichen Nichtaufbruchs. Die jeweilige Parteienklientel häppchenweise aus den gegenwärtig vollen Staatskassen zu beglücken, jedenfalls ersetzt keine Disposition für eine zukunftsgewandte Politik, eine quantitativ stabile Regierung ersetzt keine qualitativ stabile Regierung. Andererseits, die (vermutlichen) Koalitionsgespräche zwischen Union und SPD und die vier Jahre Groko stehen erst noch an, Zeit genug, um kritische Wähler und Parteifreunde vom Gegenteil zu überzeugen. Matthias Bartsch, Lichtenau-Herbram

Das geht ohne Koalition

Mir erscheint die SPD nicht wie eine Partei, die gegenwärtig für einen Eintritt in die Regierung gerüstet ist. Sie weiß nicht mehr, welches ihre großen Anliegen sind, welchen Zielvorstellungen sie folgen soll. Im Wahlkampf war es die soziale Gerechtigkeit (ohne zu verdeutlichen, was darunter zu verstehen ist), dann war es die Bürgerversicherung, dann war es ein Katalog von mehr als 100 Forderungen, damit man auch ja nicht erkennen kann, was denn nun vorrangig wichtig ist. Und dann Europa! Endlich eine Partei in Deutschland, für die die Fortentwicklung der EU ein zentrales Streitthema ist; und das mit dem ehemaligen Präsidenten des EU-Parlaments an der Spitze! Fehlanzeige. Monatelang hat man von Europa und europapolitischen Zielvorgaben nichts gehört. Und dann, neues Thema, die Ausrufung der Vereinigten Staaten von Europa 2025. Nur, auch unausgegorene Fantasien sind noch keine Vision.

Nein, diese Partei muss sich erst wieder finden und aufzeigen, wohin es mit ihr an der Regierung gehen soll. Wähler wollen das wissen. Und wäre das: sich drücken vor der Verantwortung für das Gesamtwohl? Ist der Eintritt in eine weitere Koalition mit der Ewigkeitskanzlerin wirklich die Erneuerung, die Deutschland braucht? Warum eigentlich soll es verantwortungsvoller sein, in eine Koalition zu gehen, die auch nach dem Sondierungsergebnis nur weiteren Stillstand verspricht, als in der Opposition eine wichtige institutionelle Aufgabe zu übernehmen, neues inhaltliches Profil zu entwickeln und erneuert einen gewinnbringenden gesellschaftlichen Beitrag zu leisten? Was in dem Sondierungsergebnis steht, lässt sich mühelos auch in einer Minderheitsregierung erledigen. Der Verwirklichung der von Merkel vor vielen Jahren angekündigten Bildungsrepublik, der Erneuerung der Infrastruktur, der Realisierung der Energiewende und anderer Versprechungen wird sich niemand entgegenstellen. Dieter Menyesch, Ludwigsburg

Schwarze Tinte

Die Ergebnisse der Sondierungen sind eine große Enttäuschung und werfen Grundsatzfragen zur politischen Ausrichtung der SPD auf. Noch vor Beginn der Gespräche gab der SPD-Vorsitzende Martin Schulz aus, er erwarte eine klare sozialdemokratische Handschrift in den Sondierungspapieren, die SPD verhandele ergebnisoffen. Tatsächlich wirkt die Tinte unter dem 28-seitigen Beschluss jedoch deutlich schwärzer, als es den Genossen lieb sein dürfte. Es wird deutlich, dass die Absicht vom Wahlabend, als Partei wieder linker zu werden, scheitern wird. Auch kommt der Druck, dem die Sondierer ausgesetzt waren, zum Vorschein. Martin Schulz wäre wohl bei einem Scheitern der Gespräche kaum noch tragbar gewesen. Nun wirkt es jedoch so, als mache er den umgekehrten Lindner, frei nach dem Motto: Lieber falsch regieren, als nicht regieren, bloß, um sich im Amt zu halten.

Mit dem Ergebnis können und werden viele Sozialdemokraten nicht zufrieden sein - ich fühle mich als Erstwähler einer eher linken Partei hintergangen, siehe Einwanderung oder Familiennachzug. Ergriffen vom Schulz-Zug durch den Wahlkampf hin zum enttäuschenden Wahlabend und noch enttäuschenderen Sondierungen. Mein erstes Jahr direkter politischer Beteiligung hatte bereits mehr zu bieten, als mir lieb war. Leon Meyer, Mainz

Verträge werden überschätzt

Waren die Weltwirtschaftskrise 2008 in der großen Koalition Merkel I, der Atomausstieg nach Fukushima 2011 in der schwarz-gelben Koalition (Merkel II) oder die Ankunft von einer Million Geflüchteten 2015 in der Groko Merkel III in den Koalitionsverträgen vorgesehen und geregelt? Natürlich nicht. Die Parteien mussten sich jeweils nach innen und außen neu sortieren. In allen Fällen gab es Verschiebungen in den Gemengelagen von Koalition und Opposition, von Bundestag und Bundesrat, neue und ziemlich einsame Kanzlerin-Entscheidungen. Ähnliches gilt übrigens auch für die Wiedervereinigung, die Einführung des Euro und die Politik zur Griechenlandfinanzkrise.

Koalitionsverträge sind gelegentlich Antworten auf den unmittelbar zuvor geführten Wahlkampf, sie haben durchaus eine Bedeutung für die ersten Entscheidungen der neuen Regierungen und Parlamente. Nach vier Jahren aber lesen sie sich wie ein Buch aus längst vergangenen Zeiten: "Ach, wie naiv waren wir doch damals!" Starre Koalitionen sind eine Illusion - und eine für die parlamentarische Demokratie gefährliche Illusion, weil sie das Ringen um Lösungen für aktuelle Probleme aus den Parlamenten vertreibt. Michael Rothschuh, Hamburg

Wo sind die Prinzipien?

Die SPD ist jetzt beim Flüchtlingsthema voll eingeknickt, beziehungsweise die bayerisch-österreichisch-ungarische Allianz hat sich durchgesetzt. Wie im Sondierungspapier aufgeführt, sollen alle Asylverfahren künftig in zentralen Aufnahme-, Entscheidungs- und Rückführungseinrichtungen abgewickelt werden. Neuankömmlinge dürfen sie erst verlassen, wenn sie eine Bleibeperspektive haben. Alle anderen sollen - wenn in angemessener Zeit möglich - abgeschoben werden. Auch unbegleitete Jugendliche müssen zur Identitätsfeststellung zunächst in solchen Sammelunterkünften bleiben.

In den sogenannten Transitzentren wie in Ingolstadt oder Großlagern wie in Bamberg werden bereits jetzt in Bayern Flüchtlinge vollkommen isoliert und mit Stacheldraht abgeschirmt. Fast kein Unterschied zu dem ungarischen Lager Röszke des CSU-Freundes Orbán. Auch die österreichische Regierung möchte ja Asylbewerber künftig "konzentriert" in Grundversorgungszentren unterbringen, wie ihr FPÖ-Innenminister Herbert Kickl ausgeführt hat.

Eine weitere Augenwischerei in der Flüchtlingspolitik ist die Begrenzung des Familiennachzugs auf maximal 1000 Menschen im Monat, parallel dazu laufen ja die freiwilligen Aufnahmen aus Griechenland und Italien in gleicher Höhe aus. Großzügig konnte man bei der jährlichen Obergrenze für Zuwanderung in Höhe von 180 000 bis 220 000 sein, da man weiß, dass aufgrund der "geschlossenen" Balkanroute und der Dramen im Mittelmeer die Obergrenze nicht erreicht werden wird.

Sind das die Sondierungserfolge der SPD? Wo sind die Prinzipien der SPD geblieben? Es bleibt nur zu hoffen, dass der SPD-Sonderparteitag die Sondierungsergebnisse ablehnt. Ansonsten wird die SPD nicht mehr in der Parteienlandschaft benötigt. Johannes Groha, Taufkirchen

Schädliches Rumgehacke

Danke an Markus Söder und Alexander Dobrindt, sie erleichtern es mir mit ihren Äußerungen ungemein, als SPD-Mitglied Nein zur Groko zu sagen. Basisdemokratie scheint den beiden CSU-Politikern kein Begriff zu sein - von Herzen hoffe ich, dass sie dies nach der bayerischen Landtagswahl auf der Oppositionsbank von Grund auf erlernen können - mindestens jedoch in einer Koalition. Es stellt sich mir die Frage: Dieses ganze Rumgehacke auf der SPD und auf uns Zwerge: Ist dies Absicht? Wollen sie keine Groko? Oder haben sie Angst, nach den Landtagswahlen genau diese aktuellen Verhandlungen ebenso führen zu müssen? Zeit würde es werden, denn jahrzehntelange Alleinherrschaft in unserem schönen Bayern hat ihrem Demokratieverständnis ganz und gar nicht gutgetan. Birgit Wittmann, Aufhausen

Konservative Verhinderer

Bei Betrachtung der Sondierungsergebnisse, wie sie in der SZ vom 13./14. Januar auf Seite 1 unter "Geben und Nehmen" aufgelistet sind, bleibt dies als stärkster Eindruck: Der rote Block der SPD ist voll, nämlich voller positiver Ziele mit Auswirkungen auf Familien und ihren Geldbeutel, Alte, Pflege, Umwelt, Wirtschaft. Bei der CDU ist der gleiche Raum gefüllt mit Negationen: kein -, keine -. Positive Ziele? Anscheinend nur "Merkel bleibt Kanzlerin" und "sichere Herkunftsländer im Maghreb". Dagegen kommt sogar noch die CSU mit der Mütterrente auf 50 Prozent.

Das heißt doch, dass die beschworene politische Verantwortung der CDU im Verhindern besteht, nicht aber im Gestalten und Entwickeln von Alternativen. Hier liegt die Gefahr des Weiterwurstelns, nicht bei einer "umgefallenen" SPD. Auf diesen gravierenden Unterschied müsste Martin Schulz hinweisen. Und diesen Unterschied sollten auch die politischen Kommentatoren zum Thema machen. Vielleicht reicht ja die Woche der Meinungsbildung bei der SPD, um die Chance zur Verwirklichung schon akzeptierter Ziele zu erkennen und mit dem Beschluss zu einer erneu(er)ten großen Koalition zu nutzen. Freilich: Wenn es rascher ginge, käme das uns allen zugute. Barbara Heckel, Esslingen

© SZ vom 16.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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