Bundestag:Gegen den Wildwuchs des Parlaments

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598 Abgeordnete sind vom Gesetz im deutschen Bundestag vorgesehen. Aktuell sitzen dort 709, verursacht durch Überhang- und Ausgleichsmandate. Deshalb wurde die Wahl 2017 nun gerichtlich angefochten.

Zu volles Haus: 709 Abgeordnete zählt das neue Parlament im Berliner Reichstag, das sind 111 mehr als gesetzlich vorgesehen. Deshalb wurde die Bundestagswahl vom September 2017 gerichtlich angefochten. (Foto: Christian Thiel/imago)

"Das dauert alles zu lange" vom 12./13. Mai:

Beschwerde eingereicht

Der wichtigste Satz im Interview von Stefan Braun und Robert Roßmann mit Wolfgang Schäuble lautet: "Ohne Druck geschieht nichts." Der Bundestag hat in normaler Besetzung 598 Mitglieder. Tatsächlich sind nach der Wahl vom 24. September 2017 aber 709 Abgeordnete in das Berliner Parlament eingezogen: 111 mehr als normal. 46 von ihnen mit sogenannten Überhangmandaten; und 65 von ihnen mit Ausgleichsmandaten. Dieser exorbitante Wildwuchs der Abgeordneten wird allgemein kritisiert. Doch es passiert: nichts! Deshalb haben etwa 50 Beteiligte - aus diesen, aber auch aus anderen Gründen - die Bundestagswahl angefochten. Der Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl ist beim Bundestag unter dem Aktenzeichen WP 193/17 anhängig. Weil aber alles zu lange dauert, haben sie einen besonders dringlichen der insgesamt fünf Streitpunkte herausgegriffen und dazu einen Eilantrag gestellt. Damit wollen sie erreichen, dass die 65 Abgeordneten, die lediglich ein nachgeschobenes Ausgleichsmandat bekleiden - also gar nicht unmittelbar gewählt worden sein können, weil die Wahllokale ja schon geschlossen waren, als ihnen die Zusatzmandate über den Kopf der Wähler hinweg zugeteilt wurden - mit sofortiger Wirkung so lange von allen Abstimmungen im Parlament ferngehalten werden, bis die Streitfrage in der Hauptsache entschieden worden ist. Der Bundestag hat diesen Eilantrag ignoriert. Um den Druck auf den Bundestag zu erhöhen, führen die Beteiligten des Wahleinspruchs Beschwerde beim Verfassungsgericht. Die Beschwerde ist dort unter dem Aktenzeichen 2 BvQ 33/18 anhängig. Es könnte also alles sehr schnell gehen, sollten die acht Höchstrichter des Zweiten Senats dem Eilantrag stattgeben. Dr. Manfred C. Hettlage, München

Schäuble bleibt zu vage

Die Kritik Wolfgang Schäubles an der Schwerfälligkeit des parlamentarischen Systems und eine gewisse Schieflage durch den großen Einfluss der Länder auf die Bundespolitik sind für mich weitgehend nachvollziehbar, bei Lösungsvorschlägen für das Problem bleibt er aber vage, wenn man vom Vorschlag für das Werten der Enthaltungen bei Abstimmungen im Bundesrat absieht. Das ist wohl auch seiner Einschätzung geschuldet, dass Grundgesetzänderungen schwierig bis gar nicht durchsetzbar sind, die den Föderalismus betreffen, unter anderem weil auch hier ohne die Zustimmung der Länder nichts geht. Diese Haltung ist zwar einerseits verständlich, da man realistisch sein muss, was die Durchsetzbarkeit betrifft, doch würde es der politischen Debatte guttun, wenn auch konkrete Vorstellungen für eine Neuordnung von Zuständigkeiten und Mitwirkungsrechten einfließen würden. Dann könnte man zum Beispiel darüber debattieren, ob die Aufgaben des Bundes und der Länder nicht streng(er) voneinander getrennt werden müssten, im Gegensatz zur aktuellen Tendenz, immer mehr Dinge miteinander zu vermischen, was den Einfluss der Länderregierungen auf die Bundespolitik eher noch verstärkt und Abstimmungsprozesse erschwert. Wozu natürlich auch die grundlegende Frage der Finanzierung und des Finanzausgleichs gehört. Auch beim Wahlrecht könnte man über eine Entregionalisierung der Bundestagswahlen nachdenken und anstatt der bisherigen Landeslisten der Parteien jeweils eine Bundesliste erstellen, unter Beibehaltung der Direktmandate. Das würde wohl auch das Problem der Überhangmandate weitgehend lösen, das ja vor allem durch diese regionalen Wahllisten und den dann erforderlichen Mandatsausgleich zwischen den Ländern entsteht. Und dann hätte man als Wähler zudem die Möglichkeit, in jedem Bundesland jede zur Bundestagswahl antretende Partei zumindest mit der Zweitstimme zu wählen, was auch dazu beitragen könnte, die Bundespolitik unabhängiger von Regionalparteien zu machen. Thomas Armbrüster, Erding

Wem soll das nützen?

Ja, Tempo jetzt, bitte, Herr Schäuble, je eher, desto besser, damit wenigstens in der übernächsten(!) Legislaturperiode etwas daraus werden könnte - vielleicht. Es geht um die angesprochene Reform des Wahlrechts samt längst überfälligem, neuem Zuschnitt der Wahlkreise und Stimmbezirke, was neben den Herren Lammert und Solms schon viele andere kompetente Fachleute angemahnt haben. Seit der jüngsten Wahl hält Deutschland einen weiteren Weltmeistertitel, den des größten (demokratisch gewählten, immerhin!) Parlaments, nach China, vor Nordkorea! Und das dank der 111 sogenannten Überhangs- und Ausgleichsmandate, deren Zustandekommen kein Laie mehr durchschauen kann. Wir leisten uns 709 Parlamentarier statt der 598 gesetzlich vorgesehenen. Und wem soll das nützen? Einer effektiveren Parlamentsarbeit? Herr Schäuble wird bei seinen Reformbestrebungen sofort mindestens 111 Gegner haben, plus sechs Schatzmeister, deren Parteikassen ebenfalls Nutznießer sind. Gewiss, Demokratie darf schon etwas kosten, aber durch diesen über Jahrzehnte verschleppten Zustand sind für den Steuerzahler inzwischen mehr als sechsstellige Millionensummen an Mehrkosten aufgelaufen, allein dieses Mal nach Expertenschätzungen etwa 300 Millionen. Ernst Feistel, Maisach

Das wilhelminische Erbe

Wolfgang Schäuble beklagt die Sperrigkeit des Föderalismus zu Recht - es hat überhand genommen mit der deutschen Kleinstaaterei, mal wieder. Das hat auch Angela Merkel eingesehen, als sie einige Kompetenzen zurück in den Machtbereich des Bundes gelegt hat. Diese föderalistische Sperrigkeit ist ein Grund dafür, dass Reformen in Deutschland viel zu langsam oder gar nicht in Angriff genommen werden, und Politiker wie Emmanuel Macron, die sozusagen von heute auf morgen eine enorme Machtfülle erlangt haben, mit der sie reformieren können, hierzulande nicht agieren können. Es ist sein wilhelminisches Erbe, das Deutschland nicht abschütteln will: übertriebene Ordnungsliebe an falscher Stelle, Pedanterie, unzeitgemäße Prioritäten, renitenter Trotz. Sollte Deutschland es nicht schaffen, sich von diesem unseligen Erbe zu befreien, dann wird Macron demnächst das Ruder in der Hand halten, wenn es um globale Entscheidungen geht. Sein Besuch in Washington hat das deutlich illustriert. Sebastian Dégardin, Hamburg

© SZ vom 29.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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