Nils Hölig reißt die Arme in die Luft, breitet sie aus. "Freiheit!", schmettert er in das Raucherzimmer einer Tübinger Kneipe. "Freiheit! Das war das Schlüsselwort dieser Debatte." Der 23-Jährige furcht dabei mit den Armen durch die Luft, obwohl er an diesem Mittwochabend keine Schwaden teilen muss. Keiner raucht von den zwei Dutzend Leuten im Raum. Sie hören zu. Nils Hölig spricht von der Burka, wie sie Frauen in ein mobiles Gefängnis sperre, von der Außenwelt abschirmt. Zwischenfrage aus dem Publikum: "Meinst du nicht, dass es Menschen gibt, die offen auf Menschen zugehen, die eine Burka tragen, und mit ihnen reden?" BWL-Student Hölig: "Nein, das glaube ich nicht."
Es ist Mittwochabend und die Mitglieder des Tübinger Vereins "Streitkultur" haben sich versammelt. Es sind Studenten von Biochemie bis Philosophie, die einmal in der Woche eines eint: Sie wollen debattieren, und zwar nach festen Regeln. Im Tübinger Raucherzimmer ragt eine Tafel aus fünf Tischen quer in den Raum. An einem Kopfende sitzt der Debattenleiter. Am anderen steht als letzter Redner Nils Hölig für die Regierungsfraktion, die er mit zwei Kolleginnen bildet und die zu seiner Rechten sitzt.
Jeder hat sieben Minuten
Zu seiner Linken hat die Opposition mit drei Leuten Platz genommen. So stellen sie eine Parlamentsdebatte nach. Im Wechsel sprechen Regierung und Opposition. Jeder Redner hat sieben Minuten Zeit. Hinzu kommen drei Fraktionslose, die sich für die Meinung von Regierung oder Opposition entscheiden, aber nur dreieinhalb Minuten sprechen dürfen. Zwischenrufe und Applaus aus dem Publikum sind in Maßen erlaubt.
An diesem Abend geht es um die Frage, die schon in Belgien und Frankreich die Gemüter erhitzt hat: Soll die Ganzkörperverhüllung in der Öffentlichkeit verboten werden? Die Vereinsvorsitzende Anna Mattes verliest das Thema, dann haben die Redner 15 Minuten Zeit, sich vorzubereiten. Jeder macht sich ein paar Notizen und los geht es: "Ich glaube, dass niemand freiwillig mit einem Netz um den Kopf herumläuft", sagt die Eröffnungsrednerin der Regierung in ihrem Plädoyer gegen die Burka. Der Auftaktredner der Opposition hält dagegen: "In Deutschland trägt praktisch niemand die Burka. Bei Migranten ist sie verpönt. Ist dann die Burka in Deutschland wirklich das große Problem?"
Es geht um Argumente
Bei den Debatten geht es nicht um die eigene Meinung, sondern darum, Argumente zu finden und sie überzeugend zu vertreten. "Manchmal tut es einem weh, wenn man dagegen sein muss", sagt Anna Mattes. Die 22-Jährige ist seit zweieinhalb Jahren bei dem Verein. Sie kam über eine Mitbewohnerin dazu. "Ich wusste vorher gar nicht, was das ist", sagt sie über Debattierclubs. Kein Wunder: Ein Vorgänger des Tübinger Vereins wurde 1991 gegründet, "Streitkultur" kann sich damit schon als der älteste Club in Deutschland bezeichnen. Das ist nicht eben viel Tradition im Vergleich zu Großbritannien, wo Studenten in Cambridge und Oxford schon im frühen 19. Jahrhundert in "Unions" debattierten. Und wo später auch Premierminister wie Tony Blair und Margaret Thatcher die rhetorische Schule der Debattierclubs durchlaufen haben.
Nicht jeder kommt rein
Doch die Debattenkultur in Deutschland entwickelt sich. Seit 2002 gibt es den bundesweiten Schulwettbewerb "Jugend debattiert". Anfangs nahmen 15000 Schüler teil, heute sind es 90000. Der Verband der Debattierclubs an Hochschulen (VDCH) hat im Jahr 2001 mit neun Gründungsmitgliedern angefangen. Mittlerweile sind 66 Vereine dabei, von Kiel bis Konstanz und darüber hinaus bis Wien und Bozen. Auch die Zahl der Aktiven in den Vereinen habe sich deutlich vermehrt, sagt Präsident Tim Richter. Weitere Gruppen wollen ihm zufolge in den Verband. Richter aber betont: "Wir nehmen nicht mehr jeden auf, nur weil er existiert." Qualität soll vor Quantität gehen. Die Besten messen sich schon jetzt regelmäßig auf Turnieren wie der deutschen Meisterschaft oder den Zeit-Debatten, die die Wochenzeitung sponsert.
Bei der Entwicklung der Debattenkultur steht Tübingen übrigens nicht zufällig im Mittelpunkt. Die dortige Eberhard-Karls-Universität ist die einzige in Deutschland, an der es Rhetorik als Studienfach gibt. Und die Rhetorikstudenten waren auch bei der Gründung des Tübinger Debattierclubs, der bis heute einer der erfolgreichsten in Deutschland ist, mit dabei.
"Edeldebatten" bei Anne Will
Für den Tübinger Rhetorik-Professor Joachim Knape ist der Zulauf bei Debattierclubs und -wettbewerben logisch: Er sieht in der Bundesrepublik einen Wandel weg vom Schriftlichen hin zu einer Kultur des Mündlichen. Dazu beigetragen haben die Medien, in denen heute viel mehr als früher debattiert werde, sagt Knape: "Auch auf dem untersten Niveau in den Nachmittagsshows werden Probleme verhandelt." Obendrein gebe es aber auch die "Edeldebatten" bei Anne Will, Maybrit Illner oder Frank Plasberg. "Das sind Sendungen, bei denen der Bürger das Gefühl hat: Deine Sache wird verhandelt", so Knape.
Debattierclubs sind für den Wissenschaftler die Orte, an denen sich die zukünftigen Funktionseliten für solche öffentlichen Debatten wie im Fernsehen schulen können. "Da werden Demokraten fit gemacht", meint Knape. Denn: "Es muss in der Politik Leute geben, die das wirklich gut gelernt haben - und daran hapert es oft." Für Anna Mattes und Nils Hölig steht jetzt im Studium erst einmal der Spaß im Vordergrund. Doch der Tübinger Verein legt auch bei seinen Übungsdebatten Wert auf Qualität: Immer im Anschluss findet eine intensive Kritikrunde statt.
In Rage geredet
An diesem Abend bekommt die eine zu hören, sie habe sich zu sehr in Rage geredet. Die andere, dass sie sich zu sehr auf die Gegner konzentriert habe und dann für die eigenen Argumente keine Zeit mehr hatte. Nils Hölig erhält an diesem Abend Lob für seine Fortschritte. Aber weniger Pathos in seiner Freiheitsrede hätte ihm gut getan, meint einer. Trotzdem haben er und seine Regierungsfraktion offenbar überzeugt: Wenn es nach der Abstimmung im Tübinger Raucherzimmer geht, müsste die Burka verboten werden.