Arbeitsethik:Was Chefs von Kant lernen können

IMMANUEL KANT

Immanuel Kants kategorischer Imperativ kann Führungskräfte zu ethischem Handeln anleiten.

(Foto: DPA/DPAWEB)

Viele Arbeitnehmer leiden unter dem Führungsstil ihrer Vorgesetzten. Doch wie sollte sich ein guter Chef verhalten? Ein Streifzug durch die Philosophie - von Aristoteles bis Popper.

Von Dieter Frey und Lisa Schmalzried

Viele Probleme unserer Gesellschaft werden durch nicht vorhandene, verantwortungslose und schlechte Führung mitverursacht. Nicht alle Menschen in Führungspositionen sind fähig und/oder willig, diese adäquat auszufüllen. Unter schlechter Führung können Arbeitsergebnisse leiden, Mitarbeiter werden demotiviert, frustriert und rutschen schlimmstenfalls in einen Burn-out ab. Gute Führung hingegen regt Innovationen an, führt zu konstruktiven Problemlösungen, weckt Kreativität und begeistert für Aufgaben.

An welchen Werten sollte sich nun gute Führung orientieren? Werte sind wichtig, da sie Orientierung geben. Sie sind ein Kompass, der anzeigt, was richtig und was falsch ist. Eine gute Führungskraft orientiert sich sicher an Werten wie Qualität, Leistung, Kreativität und Erfolg. Neben diesen spielen aber auch moralische Werte eine zentrale Rolle. Welche diese sind, kann man aus Werken bekannter Philosophen ableiten. Ein Blick in die Gedankenwelten von fünf großen Denkern lohnt:

Immanuel Kants (1724-1804) Ethik der Pflichten ist eine der einflussreichsten Moraltheorien. Ihr Herzstück ist der kategorische Imperativ. Er beinhaltet ein oberstes Prinzip für moralisch richtiges Handeln und lautet: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde."

Eigene Interessen beiseite lassen

Eine von Kant überzeugte Führungskraft überlegt also immer, ob ihre Handlungen gemäß dem kategorischen Imperativ verallgemeinerbar sind, und versucht sich so zu verhalten. Hierzu muss sie von allen persönlichen Neigungen und Vorlieben abstrahieren, sie darf sich nicht von ihrem Eigeninteresse leiten lassen.

Die Idee des kategorischen Imperativs verbietet, Personen zu instrumentalisieren. Ein Grund hierfür ist, dass Personen über Würde verfügen und diese geachtet werden muss. Somit sollte auch eine Führungskraft die Würde all derjenigen achten, die sie mit ihrem Handeln tangiert. Beispielsweise sollte sie ihr Gegenüber als gleichwertig betrachten, unabhängig von ihrer Stellung im Unternehmen. Es geht um den Respekt für Personen, nicht um die Ehrfurcht vor Hierarchie.

Jeder vernünftige Mensch kann selbständig erkennen, was moralisch geboten ist. Hierzu braucht er keine staatliche, religiöse oder familiäre Autorität. Er muss "nur" den kategorischen Imperativ anwenden. Kant betont die Mündigkeit jedes Einzelnen. Hier spiegelt sich der von Kant formulierte Leitspruch der europäischen Aufklärung wider: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!"

Für eine Führungskraft bedeutet das, dass sie mündig handeln soll und sich nicht hinter den Entscheidungen anderer verstecken darf. Zugleich sollte sie Rahmenbedingungen schaffen, die die Mündigkeit ihrer Mitarbeiter begünstigen. Dies bedeutet auch, den Mitarbeitern Vertrauen zu schenken.

Was nützt den meisten?

Der moralphilosophische "Rivale" zu Kants Theorie ist der Utilitarismus, wie ihn zum Beispiel John Stuart Mill (1806-1873) vertritt. Auch der Utilitarismus formuliert ein oberstes Prinzip für moralisches Handeln, das Nützlichkeitsprinzip: Eine moralisch richtige Handlung maximiert das Glück der größten Zahl von Menschen. Der Utilitarismus ist eine konsequentialistische Ethik. Anhand der Folgen einer Handlung wird ihre moralische Zulässigkeit beurteilt. Die Folge, auf die es ankommt, ist die Glücksmaximierung. Glück ist somit der zentrale Wert des Utilitarismus.

Überzeugt der Utilitarismus eine Führungskraft, überlegt sie genau, welche Folgen sich aus unterschiedlichen Handlungen ergeben. Wie beeinflussen sie das Glück, die Zufriedenheit und das Wohlbefinden der von der Handlung Betroffenen?

Hierzu muss eine Führungskraft wissen, was ihre Mitarbeiter (oder Kunden und Geschäftspartner) sich wünschen, was sie zufrieden macht, wann sie gerne zur Arbeit kommen. Um dies zu erfahren, muss sie mit ihnen Gespräche führen. Da es jedoch meist unmöglich ist, die Wünsche und Sehnsüchte aller Beteiligten gleichermaßen zu erfüllen, müssen etwaige Enttäuschungen erklärt und begründet werden. Menschen können viel ertragen, wenn sie wissen warum.

Was ermöglicht ein glückliches Leben?

Im Gegensatz zu Kant und Mill sucht Aristoteles (384 v. Chr.-322 v. Chr.) nicht nach einem obersten Leitprinzip für moralisches Handeln. Seine Tugendethik fragt vielmehr: Was ermöglicht ein glückliches Leben?

Für Aristoteles führt ein tugendhaftes Leben zu einem glücklichen Leben. Dabei unterscheidet er zwei Arten: sittliche Tugenden wie Mut, Mäßigkeit und Großzügigkeit, und Verstandestugenden wie Weisheit, Kunstfertigkeit und Klugheit. Inspiriert von Aristoteles kann eine Führungskraft anstreben, tugendhaft zu werden. Das hilft im Umgang mit schwierigen Situationen und Personen, weil tugendhaftes Handeln sehr kontext- und personensensitiv ist.

Was tugendhaft ist, bemisst sich nicht an einer starren Regel. Vielmehr muss man überlegen, wie ein wahrhaft Tugendhafter in dieser Situation handeln würde. Der wahrhaft Tugendhafte ist das Vorbild für tugendhaftes Handeln. Da auch Führungskräfte Vorbildfunktionen erfüllen, sollten sie anstreben, wahrhaft tugendhaft zu sein.

Hans Jonas (1903-1993) formuliert eine Philosophie der Verantwortung. Laut dieser sind nur Menschen zur Verantwortung fähig. Dieses Können impliziert eine moralische Verpflichtung zur Verantwortung. Nach Jonas sind wir als Menschen besonders für zwei Aspekte verantwortlich: zum einen für diesen Planeten, denn diesen haben wir nur von unseren Enkeln geborgt, zum anderen für die Achtung der Menschenwürde.

Verantwortung nicht abschieben

Was folgt hieraus für das tägliche Handeln? Statt Verantwortung abzuschieben, getreu dem Motto "Kollege kommt gleich", sollte man umdenken: "Habe ich mich verantwortungsvoll verhalten? Was habe ich unternommen, dass mein Gegenüber sich verantwortungsvoll verhält?" Man muss hinsehen, sich zuständig fühlen. Dies ist eine starke Forderung. Aber sie hilft zu reflektieren, wofür man Verantwortung hat, haben sollte beziehungsweise nicht haben möchte, und was dies bedeutet. Gerade für Führungskräfte ist das wichtig, da sie dank ihrer Position über viel Macht und Einfluss verfügen.

Während die bisherigen Theorien zur Moralphilosophie gehören, zählt Karl Popper (1902-1994) zu den Wissenschaftstheoretikern. Sein kritischer Rationalismus setzt Standards für wissenschaftliches Arbeiten in den Natur- und auch Sozialwissenschaften. Popper gibt zu bedenken, dass empirische Theorien aus logischen Gründen niemals als zweifelsfrei wahr bewiesen werden können. Schon morgen kann eine neue Erkenntnis die gesamte Theorie infrage stellen. Daher sollte die Wissenschaft aufhören zu versuchen, die Wahrheit von Theorien zu beweisen.

Vielmehr sollte ein Prinzip der Falsifikation befolgt werden: Man sollte beständig versuchen, bestehende Theorien zu widerlegen. Hierdurch werden bessere Theorien entwickelt und der wissenschaftliche Fortschritt gesichert. Dieses kritische Herangehen erfordert eine kritisch-rationale Dialogkultur: Es wird sachorientiert argumentiert, das bessere Argument gewinnt, und Hierarchien spielen keine Rolle.

Popper überträgt diese Gedanken auf die Gesellschaft. Anders als beispielsweise beim Nationalsozialismus und Kommunismus sollten keine Idealzustände dogmatisch angestrebt werden, bei deren Realisierung im Zweifelsfall Individuen missachtet werden. Vielmehr sollten Defizite im Status quo identifiziert und schrittweise verbessert werden (Stückwerkansatz). So kann der Kurs immer wieder berichtigt werden.

Poppers Ideen lassen sich auf soziale und kommerzielle Organisationen übertragen: Man braucht eine offene Kultur, in der eine kritisch rationale Diskussion möglich ist. Probleme gilt es zu erkennen und offen anzusprechen, um für sie Lösungen zu finden (Problemlösekultur), notfalls auch indem man sich streitet (Streit- und Konfliktkultur). Es sollte immer darum gehen, bestehende Zustände zu verbessern, nicht abzusichern. Die Innovationsforschung zeigt, dass solch eine kritisch rationale Kultur Innovationen, Motivation und Kreativität fördert.

Wie sieht gute Führung nun also aus?

Was folgt aus diesen fünf Theorien für die Frage, woran sich gute Führung orientiert?

Jeder Philosoph liefert Orientierungspunkte für gute Führung. Dabei muss man sich nicht auf eine Theorie festlegen, sondern kann sich von unterschiedlichen Theorien und ihren Auffassungen über (moralisch) wünschenswertes Handeln inspirieren lassen. Dabei wird deutlich, dass vieles, was die Philosophen fordern, in der Realität nicht gelebt wird. Die Philosophen halten einen Spiegel vor, der zeigt, wo gegen fundamentale Prinzipien des moralischen Handelns verstoßen wird, wo Defizite und Missstände liegen. Dies führt zum Gedanken einer ethikorientierten Führung: Eine ethikorientierte Führungskraft richtet ihr Handeln an einem festen Wertegerüst aus, in welchem moralische Werte eine zentrale Rolle spielen.

Zusammenfassend ist festzuhalten: Wir sind keine Anhänger permanent neuer Management-Methoden. Vielmehr plädieren wir dafür, sich auf moralisch-philosophische Grundwerte zurückzubesinnen. Diese Rückbesinnung führt zu dem Modell der ethikorientierten Führung. Eine ethikorientierte Führungskraft erfüllt eine ganz grundlegende Forderung: Wann immer du handelst, handle moralisch.

Ethikorientierte Führung, also ein moralisch korrekter Umgang mit Mitarbeitern, Kunden, Lieferanten und Geschäftspartnern, mag sich aber auch in anderer Hinsicht auszahlen. Werden beispielsweise Mitarbeiter moralisch behandelt, wird ihre Würde geachtet, werden sie als mündiges, gleichberechtigtes Gegenüber betrachtet, wird Wert auf ihre Wünsche und Sehnsüchte gelegt usw., dann ist zu erwarten, dass dies ihre Motivation, Leistung, Kreativität und Zufriedenheit mit ihrer Arbeit steigert. Die Umsetzung moralischer Prinzipien am Arbeitsplatz begünstigt somit ökonomischen Erfolg, eine Missachtung blockiert diesen.

Dieter Frey ist Professor für Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er leitet das Center for Leadership and Peoplemanagement. Lisa Schmalzried arbeitet als Oberassistentin am Philosophischen Seminar der Universität Luzern. Beide sind Autoren des Buchs "Philosophie der Führung - Gute Führung lernen von Kant, Aristoteles, Popper & Co." (Springer Verlag, 2013).

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: