Verfassungsklage:Aufschrei gegen den Pflegenotstand

Betreuung im Seniorenheim

In der Klage werden schwere Vorwürfe laut: Pflegebedürftige seien wochenlang nicht geduscht worden oder mussten stundenlang in verkoteter Kleidung ausharren (Symbolbild).

(Foto: dpa)
  • Sieben Beschwerdeführer klagen vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gegen die Zustände in deutschen Altenheimen.
  • Die Kläger bezeichnen die Pflegereform der schwarz-roten Regierung als "völlig unzulänglich".
  • Moniert werden vor allem sogenannte "freiheitsbeschränkende Maßnahmen" wie das Fesseln von Patienten.

Von Heribert Prantl

So eine Verfassungsklage hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben: Sieben Musterkläger fordern das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe auf, gegen den Pflegenotstand in Deutschland einzuschreiten und den Gesetzgeber "zur Einhaltung seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtungen" zu bewegen.

Die Klage, eine Verfassungsbeschwerde, die sich auf eine Verletzung der Grundrechte stützt, ist juristisch wagemutig und spektakulär, vor allem aber ist sie menschlich bewegend. Man liest sie fast mit Tränen in den Augen - beschämt über die Zustände in der stationären Pflege für alte und demente Menschen und betroffen davon, dass man über kurz oder lang selbst in die geschilderte Not geraten könnte.

Zu Beginn der 112-seitigen Klageschrift werden die Bedrängnisse der Beschwerdeführer, die zwischen 35 und 89 Jahre alt sind, bewegend geschildert. Sodann appelliert die Klage eindringlich an den Staat, für ein "pflegerisches Existenzminimum" in den Altenheimen zu sorgen. In stationärer Pflege befinden sich in Deutschland derzeit 750 000 Menschen, verteilt auf mehr als zehntausend Heime.

Unterstützt werden die sieben Beschwerdeführer vom VdK, dem mit 1,7 Millionen Mitgliedern größten Sozialverband in Deutschland. Sie begehren die Feststellung, "dass die gegenwärtigen staatlichen Maßnahmen zum Schutz ihrer Grundrechte den Anforderungen des Grundgesetzes nicht genügen" und dass "der Staat zu umgehender Abhilfe verpflichtet ist". Sie erwarten, dass sie selbst in absehbarer Zeit ins Pflegeheim ziehen müssen und von den Missständen betroffen sein werden, ohne sich dann noch effektiv dagegen wehren zu können. Die Klage richtet sich nicht gegen das Pflegepersonal und nicht gegen individuelles Fehlverhalten. "Es ist das System", so einer der Kläger, der selbst als Seniorenvertreter seiner Stadt die Heime seiner Umgebung kennt, "das eine menschenwürdige Pflege erschwert oder gar verhindert".

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Reformen der Regierung "völlig unzulänglich"

Ausgearbeitet wurde die Verfassungsbeschwerde vom Rechtsprofessor Alexander Graser, Ordinarius für Öffentliches Recht, Politik und Rechtsvergleichung an der Universität Regensburg, sowie dem Rosenheimer Rechtsanwalt Christoph Lindner. Der Schriftsatz wurde am Freitag auf den Weg zum Verfassungsgericht gebracht; er liegt der Süddeutschen Zeitung vor. Die Kläger halten die jüngsten Reformen - am Freitag wurde im Bundesrat wieder eine "Pflegereform" verabschiedet - für "völlig unzulänglich". Der Staat sei zwar nicht untätig, eine mehr als marginale Verbesserung der Lage sei aber von den eingeleiteten Reformen nicht zu erwarten. Den Beschwerdeführern bleibe nicht die Zeit, um "geduldig zuzusehen", wie sich der Staat in Richtung einer erhofften Problemlösung bewege. Das Ausmaß der Missstände sei so groß, "dass sie nur mit einer grundlegenden Reform in den Griff zu bekommen sind".

Die Schicksale der Kläger werden der juristischen Argumentation vorangestellt. Eine Klägerin hatte ursprünglich im Appartement einer betreuten Wohnanlage gelebt, musste dann aber wegen ihrer Demenzerkrankung in den beschützten Bereich eines Pflegeheims umziehen. Ihre Angehörigen stellten dort fest: Die Bewohner seien nur alle vier Wochen geduscht worden, es gab keine Zahnpflege, die Alten mussten oft in verkoteten Windeln oder verkoteter Kleidung stundenlang ausharren, Medikamente wurden nicht oder nur unzuverlässig verabreicht, Notrufe nicht beachtet; in der kalten Jahreszeit wurden die Bewohner von 18 Uhr an in ihren Zimmern eingeschlossen.

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Als alle Versuche scheiterten, die Situation zu verbessern, übernahmen die Angehörigen die Pflege selbst. Die 81-Jährige wird nun tagsüber in einer Tagespflegeeinrichtung betreut, den Großteil der Pflege übernehmen die Tochter und der Enkel selbst. Sie befürchten, dass sie diese Pflege auf Dauer nicht bewältigen können und sich dann "die erschütternden Erfahrungen vom letzten Heimaufenthalt" wiederholen.

"Hilfe in schreiender Not"

Einzelfälle? Dagegen spricht laut Klage schon die schiere Zahl solcher Fälle. Die Gesamtheit dieser Fälle mache den Pflegenotstand aus. Die Liste von deutschlandweiten Versorgungsmängeln, die die Klage aufzählt, ist lang. Moniert wird unter anderem die sogenannte Fixierung, also die Fesselung von Patienten, die zu oft auch ohne die notwendige richterliche Anordnung praktiziert wird; sie führt nicht selten zum Tod durch Strangulation. Rund 150 000 Menschen, so die Klage, dürften von "freiheitsbeschränkenden Maßnahmen" dieser Art betroffen sein. Moniert wird die gezielte Ruhigstellung von Demenzkranken durch Psychopharmaka, um so Pflegepersonal einzusparen und die Einstufung des Betroffenen in eine höhere Pflegestufe zu erreichen. Moniert wird mangelnde Vorsorge gegen Druckgeschwüre bei bettlägerigen Patienten; mindestens 25 000 solcher "Dekubiti" seien durch ordentliche Pflege vermeidbar. Moniert wird, dass viel zu viele Demenzkranke per Magensonde ernährt werden. Derzeit gibt es in Deutschland hunderttausend Patienten, die per "Schlauch im Bauch" ernährt werden.

Leid wird es in Pflegeheimen immer geben. Das gesteht auch die Verfassungsklage ein. Was unvermeidbar ist, muss und darf der Staat dulden. "Spätestens dann", so die Klage, "enden seine Schutzpflichten". Allerdings sei er von dieser Grenze gegenwärtig noch weit entfernt. Der Staat habe die Pflicht, für Zustände zu sorgen, die den Grundrechten entsprechen. Zwanzig Jahre nach Einführung der Pflegeversicherung, so sagte VdK-Präsidentin Ulrike Mascher der SZ, müsse endlich dafür gesorgt werden, dass Menschen in Würde altern können. Man erbitte vom Verfassungsgericht "Hilfe in schreiender Not".

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